„Wohin denn?“ fragte Diederich. Aber Agnes antwortete nicht, sie zog ihn wieder an sich.
„Sei lieb mit mir! Ich hab’ nur dich!“
Diederich dachte verlegen: „Dann hast du nicht viel.“ Agnes schien ihm verkleinert und sehr im Wert gesunken, seit er den Beweis hatte, dass sie ihn liebte. Auch sagte er sich, einem Mädchen, das so etwas tat, dürfe man nicht alles glauben.
„Und Mahlmann?“ fragte er höhnisch. „Ein bisschen war doch wohl los mit ihm.“ – „Na lass nur“, sagte er, da sie sich mit starrem Entsetzen aufrichtete. Er suchte gutzumachen. Er sei doch auch noch ganz benommen von seinem Glück.
Sehr langsam zog sie sich an. „Dein Vater wird aber gar nicht wissen, was los ist“, meinte Diederich. Sie hob nur die Schultern. Als sie fertig war und er schon die Tür geöffnet hatte, blieb sie noch stehen und sah in das Zimmer zurück, mit einem langen, angstvollen Blick.
„Vielleicht“, sagte sie, wie zu sich selbst, „komme ich nie wieder. Mir ist, als sollte ich heute Nacht sterben.“
„Wieso denn?“ sagte Diederich, peinlich berührt. Statt einer Antwort ließ sie sich noch einmal an ihn hinsinken, den Mund auf seinem, die Brust auf seiner und von den Hüften zu den Füßen wie mit ihm verwachsen. Diederich wartete geduldig. Dann löste sie sich, öffnete die Augen und sagte:
„Du musst nicht denken, dass ich etwas von dir verlange. Ich hab’ dich geliebt, nun ist alles gleich.“
Er bot ihr einen Wagen an, aber sie wollte gehen. Unterwegs fragte er nach ihrer Familie und nach anderen Bekannten. Erst am Belle-Alliance-Platz ward er unruhig, und etwas heiser brachte er hervor:
„Natürlich denke ich nicht daran, mich meinen Verpflichtungen dir gegenüber zu entziehen. Nur vorläufig: du verstehst, ich verdiene noch nichts, ich muss erst fertig sein und zu Hause mich in den Betrieb einleben ...“
Agnes erwiderte dankbar und ruhig, als habe man ihr ein Kompliment gemacht:
„Es wäre schön, wenn ich später einmal deine Frau werden könnte.“
Da sie in die Blücherstraße einbogen, blieb er stehen. Unsicher meinte er, es sei jetzt wohl besser, wenn er umkehre. Sie sagte:
„Weil uns jemand sehen könnte? Das würde gar nichts machen, denn ich muss zu Hause doch erzählen, dass ich dir begegnet bin und dass wir im Café zusammen gewartet haben, bis die Straßen wieder frei waren.“
„Na, die kann lügen“, dachte Diederich. Sie setzte hinzu:
„Für Sonntag bist du zu Mittag geladen, du musst bestimmt kommen.“
Diesmal war es ihm zu viel, er fuhr auf. „Ich soll –? Bei euch soll ich –?“
Sie lächelte sanft und schlau. „Es geht doch nicht anders. Wenn man uns einmal sähe –: willst du denn nicht, dass ich wiederkomme?“
O ja, das wollte er. Trotzdem musste sie ihm zureden, bis er sein Erscheinen versprach. Vor ihrem Hause verabschiedete er sich mit einer formellen Verbeugung, kehrte rasch um und dachte: „So ein Weib ist scheußlich raffiniert. Lange tu’ ich da nicht mit.“ Indes bemerkte er mit Unlust, dass es Zeit sei, auf die Kneipe zu gehen. Es verlangte ihn nach Hause, er wusste nicht, warum. Als er dann die Tür seines Zimmers hinter sich zugezogen hatte, blieb er davor stehen und starrte in die Dunkelheit. Plötzlich reckte er die Arme in die Höhe, wandte das Gesicht nach oben und sagte in einem langen Aufatmen:
„Agnes!“
Er fühlte sich verwandelt, leicht, wie vom Boden gehoben. „Ich bin ganz furchtbar glücklich“, dachte er, und: „So schön kommt es im ganzen Leben nicht wieder!“ Er hatte die Gewissheit, dass er bis jetzt, bis zu dieser Minute, alle Dinge falsch angesehen, falsch bewertet hatte. Dort hinten kneipten sie nun und machten sich wichtig. Juden oder Arbeitslose, was gingen einen die an, warum sollte man sie hassen? Diederich fühlte sich bereit, sie zu lieben! Hatte er denn wirklich, er selbst, den Tag in einem Gewühl von Menschen verbracht, die er für Feinde gehalten hatte? Sie waren Menschen: Agnes hatte recht! War er selbst es, der jemand um einiger Worte willen geschlagen hatte, geprahlt, gelogen, sich töricht abgearbeitet und endlich, zerrissen und sinnlos, sich in den Schmutz geworfen hatte vor einem Herrn zu Pferd, dem Kaiser, der ihn auslachte? Er erkannte, dass er, bis Agnes kam, ein hilfloses, bedeutungsloses und armes Leben geführt habe. Bestrebungen wie die eines Fremden, Gefühle, die ihn beschämten, und niemand, den er liebte – bis Agnes kam! „Agnes! Süße Agnes, du weißt ja gar nicht, wie ich dich liebhabe!“ Aber sie sollte es wissen. Er fühlte, dass er es nie wieder so werde sagen können wie in dieser Stunde, und er schrieb einen Brief. Er schrieb, dass auch er diese drei Jahre immer auf sie gewartet habe, und dass er keine Hoffnung gehabt habe, weil sie zu schön für ihn sei, zu fein und zu gut; dass er sich das mit Mahlmann nur eingeredet habe aus Feigheit und aus Trotz; dass sie eine Heilige sei, und nun sie zu ihm herabgestiegen, liege er zu ihren Füßen. „Hebe mich auf, Agnes, ich kann stark sein, ich fühle es, und ich will Dir mein ganzes Leben weihen!“ – Er weinte, drückte das Gesicht in das Diwankissen, worin er ihren Duft noch spürte, und unter Schluchzen, wie als Kind, schlief er ein.
Am Morgen freilich war er erstaunt und befremdet, sich nicht im Bett zu finden. Sein großes Erlebnis fiel ihm ein, ein süßer Stoß ging durch sein Blut, bis zum Herzen. Aber auch der Verdacht kam ihm, dass er sich peinliche Übertreibungen habe zuschulden kommen lassen. Er las den Brief wieder durch: das war alles recht schön, und es konnte einen auch wirklich aus der Fassung bringen, wenn man auf einmal mit so einem großartigen Mädel ein Verhältnis hatte. Wäre sie jetzt nur dagewesen, er hätte zärtlich sein wollen! Aber den Brief schickte man doch besser nicht ab. Es war unvorsichtig in jeder Beziehung. Am Ende fing Vater Göppel ihn ab ... Diederich verschloss den Brief im Schreibtisch. „An das Essen hab’ ich gestern überhaupt nicht gedacht!“ Er ließ sich ein ausgiebiges Frühstück bringen. „Und rauchen wollte ich nicht, damit ihr Geruch nicht verginge. Das ist doch Blödsinn. So darf man nicht sein.“ Er zündete eine Zigarre an und ging ins Laboratorium. Was er auf dem Herzen hatte, beschloss er statt in Worte – denn so hohe Worte waren unmännlich und unbequem – lieber in Musik auszuströmen. Er mietete ein Klavier und versuchte sich plötzlich mit viel mehr Glück als in der Klavierstunde an Schubert und Beethoven.
Am Sonntag, wie er bei Göppels klingelte, machte Agnes selbst ihm auf. „Das Mädchen kann nicht vom Herd fort“, sagte sie; aber den wahren Grund sagte ihr Blick. Aus Ratlosigkeit senkte Diederich die Augen auf das silberne Armband, womit sie klapperte, als sollte er hinsehen.
„Kennst du es nicht?“ flüsterte Agnes. Er ward rot.
„Das von Mahlmann?“
„Das von dir! Ich trag’ es zum ersten Mal.“
Rasch und heiß drückte sie ihm die Hand, dann ging die Tür zum Berliner Zimmer auf. Herr Göppel wandte sich um. „Na, da ist wohl unser Ausreißer?“ Aber kaum erblickte er Diederich, änderte sich seine Miene, er bereute seine Vertraulichkeit.
„Ich hätte Sie, weiß Gott, nicht wiedererkannt, Herr Heßling!“
Diederich sah zu Agnes hinüber, wie um ihr zu sagen: „Siehst du? Der merkt es, dass ich kein dummer Junge mehr bin.“
„Bei Ihnen ist ja alles unverändert“, stellte Diederich fest und begrüßte Herrn Göppels Schwestern und Schwager. In Wahrheit aber fand er alle beträchtlich gealtert, besonders Herrn Göppel, der sich weniger munter benahm und dem ein kummervolles Fett von den Wangen hing. Die Kinder waren nun größer, und irgendwo im Zimmer schien eine Person zu fehlen.
„Ja, ja,“ so schloss Herr Göppel die einleitende Unterhaltung, „die Zeit vergeht, aber gute Freunde finden sich immer wieder.“
„Wenn du wüsstest, wie“, dachte Diederich verlegen und mit Geringschätzung, indes man zu Tisch ging. Beim Kalbsbraten fiel ihm endlich ein, wer damals ihm gegenüber gesessen