Die Armen. Heinrich Mann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Heinrich Mann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783849660116
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die Polizei war da —, und wie ihre Pelzmäntel sich verloren zwischen den vielen geflickten Sommerjacken. Sie merken nichts, sie schlafen. Nie, denken sie, kommt es anders. Denn sie sind es gewöhnt, sie hatten es leichter als wir, sich zu gewöhnen.

      Hier war Herbesdörfer fertig mit seinen Vorbereitungen, auszusprechen, was er sah. Er zeigte seine riesigen Hände her, ein Finger war weiß verbunden, — öffnete und schloss sie, dass sie knackten, und sagte mühsam vor Kraft:

      „Das Ganze kommt anders!“

      Balrich, gegenüber, hörte ihm achtungsvoll zu. Dadurch entging es ihm fast, dass der alte Gellert ihn leise in die Seite stieß und ihm etwas anvertraute. Er schien es lange in sich unterdrückt zu haben, und nur die gesteigerte Stimmung der Umgebung bewirkte es, dass sein letzter alter Zahn sich aufhob und etwas herausließ.

      „Längst schon könnte es anders sein,“ wisperte er. „Auch umgekehrt wär’ ein Schuh geworden. Hab’ ich Heßling mit gegründet, was fehlt dann viel, und ich wäre, was er ist.“

      Sein Großneffe sah ihn an; der Alte kniff die Lippen und machte sich klein, als habe er nichts gesagt. Balrich stutzte kurz; schon zuckte er die Achseln, Geschwätz ohne Kraft war nicht achtbar.

      Auch kamen eben jetzt die Genossen auf die Partei zu sprechen. Die Partei war mitnichten einwandfrei, sie enthielt Elemente, die mehr an sich dachten als an die arbeitende Klasse. Jauner, als der Missvergnügteste, kennzeichnete den Genossen Napoleon Fischer, unseren Abgeordneten, der Geschäfte gemacht hatte, aber bessere für sich als für uns. Er stand gut mit Heßling und wusste auch der Regierung nichts mehr abzuschlagen. Was bekam er für die Unmenge Militär, die er bewilligte? Wieder eine Versicherung, wieder eine Fürsorge. Und hatte doch gearbeitet, sogar bei Heßling. Was hoffen von den anderen, mit den weichen Händen.

      Dies war wohl richtig; dennoch wagte sich der Beifall viel weniger entschieden heraus, als vorhin, gegen Arbeitgeber und besitzende Klasse. Hiermit war nicht zu spaßen, und was Jauner dem Parteibeamten wieder erzählte, konnte dir schlechter bekommen als sein Bericht an den Heßlingschen Herrn Oberinspektor. So viel ließ sich wohl sagen, dass die Versicherungen und Fürsorgen ihre zwei guten Seiten hatten, eine für uns und eine für die Reichen, denen sie zu einem besseren Schlaf verhalfen. Dinkl, als der Unvorsichtigste, ging weiter und behauptete, das zweite sei die Hauptsache, und der alte Arbeiter, der von dem Pensionsplunder leben könne, sei noch nicht geboren.

      „Mein eigener Vater, wie oft ich ihm ins Gewissen rede, vor Mittag, wenn wir Männer noch nicht aus der Fabrik zurück sind, geht er mit seiner Essschüssel bei den Nachbarinnen umher.“

      Hierzu war der Alte genötigt, weil seine Kinder ihm das Geld seiner Altersversorgung abnahmen und ihm nicht satt dafür zu essen gaben. Dies wusste man; aber welcher Vorwurf traf einen Kameraden, der Frau und vier Kinder hindurchbrachte. Besser, es hungerte ein Alter.

      Herbesdörfer, längst nicht mehr wild, hatte ein von der Furcht zusammengezogenes Gesicht und jammerte in rauen Lauten vor sich hin. Er beklagte sich über den Kassenarzt, der ihn schon wieder zur Arbeit schickte, obwohl er im Knie seit seinem Unfall noch immer eine Schwäche hatte. Er hatte die Schwäche nicht, wenn er draußen umherging; aber kaum in der Fabrik, hatte er sie; und die Furcht, hineinzufallen zwischen die Mühlräder und zermahlen zu werden mit dem Holzstoff, machte ihm Schwindel.

      „Das kenne ich,“ sagten sie an den anderen Tischen. Denn sie kannten es.

      „Man hat doch nur seine Gliedmaßen. Frau und Kinder haben nur meine Gliedmaßen. So ein Doktor tut immer, als wachsen sie nach.“

      „Der wächst nicht nach!“ schnaubte dort hinten einer, und reckte in den Schein der Lampe seine Hand, der ein Finger fehlte. Da hob auch Herbesdörfer, rau winselnd, seinen verbundenen Finger zum Licht hinauf; und über zwei Tische, und dann nebenan, und dann an jedem kamen Finger ans Licht, dick umwickelt und weiß inmitten einer Hand, die dunkel befleckt war von den unvergänglichen Spuren der Arbeit. Wie alle diese verbundenen Wunden durch die Luft geschwenkt wurden, roch man auf einmal deutlich den dünnen scharfen Geruch, der unter den Ausdünstungen der Körper und dem Tabaksqualm, halbvergessen immer da war, den Geruch des Karbols.

      Auch Karl Balrich sah einen seiner Finger in Leinen gewickelt, er prüfte ihn, die Brauen gefaltet, unter dem Tisch. Jeder in diesem Augenblick hatte ein Gesicht, das den allertiefsten Ernst des Lebens trug. Da, in einer Stille, sagte Balrich:

      „Das hat seine Zeit, und dann kommt die Gerechtigkeit.“

      „So ist es!“ sagten sie, und ein Geschwirr entstand, aus leisen Zustimmungen, den halben Lauten der Gläubigkeit. Auf dem Wege sind wir, zur Gerechtigkeit, — und sähest du täglich mehr, dass er lang, ist, gezählt sind die Tage der Reichen. Wir werden, mit dem was jetzt sie uns kosten, selbst reich sein, alle; werden in gelüfteten Sälen gemeinsam unser gutes Essen haben, und Maschinen, die uns gehören, arbeiten für uns. Mit jenen aber wird es aus sein. Wäre dem anders, warum säuft man nicht, oder bricht ein.

      Das tun wir nicht, weil wir vernünftiger sind als sie. Wir können frei aufatmen, so, ganz frei, mitten in unserer Stickluft, denn bei uns sind Vernunft und Zukunft. Ihr dort seid erblindet durch den Besitz, ihr wisst nicht einmal mehr, was ihr in Händen habt. Wer unter euch schätzt das Wissen, den Geist, gleich uns? Ihr habt ihn vergessen, in eurem Fett. Wir, wir begreifen, dass er es ist, der die Welt erobert, und dass er auch wieder ihr Ziel ist. Jede Bibliothek, die wir zusammenbringen oder abringen eurem Geiz, ist ein Wegmal für unsere Heraufkunft und euren Untergang.

      Dinkl, mit einem Luftsprung von seinem Sitz auf, rief aus:

      „Nichts freut mich, wie die hunderttausend Mark, die ihn die Bibliothek kostet!“

      Und alle frohlockten über diese Niederlage des Generaldirektors. Kämpfe freilich kostete noch die Verwaltung der Bibliothek, denn satzungsgemäß stimmten auch Beamte beim Ankauf der Bücher, und verhinderten, soviel sie konnten, die Aufnahme der Parteischriften. Herbesdörfer schmunzelte, tief befriedigt. Seit gestern hatte er, sicher verschlossen in seinem Zimmer, „das Kapital“.

      Da betrachtete Balrich ihn, sein armes grobes Gesicht, das verriegelt aussah und hinter seiner großen Brille immer in Anstrengung und Angst schien, ob es nicht endlich sich öffnen, klarsehen und begreifen werde, sein tapferes, vergeblich ringendes Gesicht.

      „So steht es um uns,“ fühlte Balrich. „Wir sind zu schwach, obwohl wir die Stärkeren scheinen. Die Bücher, mit denen Ausbeutung und Elend zu besiegen wären, liegen in unserer Lade, wir aber sitzen hier, verbraucht vom Knechtstum der ganzen Woche und ohne Handhabe, um unsere Waffen nutzen zu lernen. Kommt dennoch einer von uns dahin, die wissenschaftlichen Werke zu erfassen, seinen Kindern kann er es darum nicht leichter machen. Wir bleiben, wo wir sind. Trachten wir das Glück zu genießen, das Armut uns erlaubt!“

      Hier erinnerte er sich, dass ein Mädchen auf ihn wartete — sein Mädchen, wenn er wollte. Aber wollte er, und musste es diese sein? Er stieg aus der Bank ohne Eile, trat noch an den Tisch drüben, hätte sich fast daran niedergelassen, — und als er dann hinausgelangte, stand dort hinten unter der Friedhofmauer schon das Mädchen. Sie stand in ihrem braunen Tuch ein wenig gebeugt, als wartete sie seit einiger Zeit, und sah ihn erst, als er schon nahe war.

      „Thilde!“ rief er aufmunternd, worauf sie ihm ein Gesicht zeigte, das voll Gram war. Er kam aber so mutig herbei, breit, spannkräftig und fest, mit dem dunklen Schopf unter der Mütze hervor, so wohlgeraten kam er, dass sie ihm dennoch entgegenlächelte.

      „Warst du schon drinnen?“ fragte er gedämpft und wies nach der Friedhofpforte.

      Sie nickte. „Mein Kleines hat alles was es braucht. Wenn auch wir das hätten.“

      „Das sollst du nicht sagen,“ verlangte er; und zarter: „Gehen wir noch einmal hinein?“

      Da sie den Kopf schüttelte, bestand er nicht darauf. Es machte nur traurig, und hatten sie nicht beide mehr vor als hinter sich? „Komm fort!“ sagte er bestimmt, nahm ihren Arm und ging schneller. Im Schatten der Mauer, von der Büsche hingen, drängte, sie sich an ihn mit den Hüften. Sie waren breit, die Brust voll, und dazu das magere Gesicht, aus dem sie bange zu ihm aufsah.