Winkels zog sein Smartphone aus der Tasche und rief die Fotogalerie auf, in der die Bilder gespeichert waren, die Dröver ihm überspielt hatte.
„Ich möchte Ihnen ein paar Fotos zeigen. Vielleicht erkennen Sie jemanden, der an dem fraglichen Tag hier war.“
Sie blickte angestrengt auf die Fotos, die an ihr vorüberzogen.
„Noch einmal zurück, bitte“, rief sie plötzlich aufgeregt.
Sie tippte auf das Display. „Diese Person war hier!“
Winkels folgte ihrem Blick. „Sind Sie sicher?“
„Ganz sicher. Ich habe mich noch gewundert über die Hast beim Heruntersteigen der Treppe, doch dann klingelte das Telefon, und als ich wieder hinsah, war da niemand mehr.“
Winkels betrachtete das Foto einige Sekunden, bevor er das Gerät wieder einsteckte.
Jetzt war plötzlich alles klar. Sämtliche Puzzleteilchen fielen automatisch an ihren Platz, und das Gesamtbild stand vor seinen Augen.
„Danke, Sie haben mir sehr geholfen“, sagte er, schon halb abwesend, und ging rasch zu seinem Auto zurück.
8. Kapitel
„Ich hoffe sehr, dass sich das Mädchen nicht geirrt hat“, murmelte Uwe Dröver. „Wenn das eine Pleite werden sollte, hast du für die nächsten Jahre Hausverbot bei uns.“
„Sie war sich ihrer Sache sehr sicher, und es passt alles zusammen“, erwiderte Winkels im Brustton der Überzeugung.
Dröver sah ihn scharf an.
Auf seiner Stirn schienen einige Sorgenfalten stärker hervorzutreten.
„Ich verlasse mich jetzt sehr auf dich, und lege mein Schicksal sozusagen in deine Hände. Hoffen wir das Beste!“
„Dein Fingerabdruckexperte ist doch mit von der Partie, oder? Dann können wir sofort einen Vergleich anstellen.“
Er gab sich innerlich einen Ruck: „Der ist dabei. Dann lass´ uns mal loslegen.“
Dröver machte eine kreisförmige Handbewegung und gab einen leisen Befehl in sein Funkgerät.
Uniformierte Polizisten und Kriminalbeamte in Zivil stürmten von mehreren Seiten auf das Haus zu. Es war noch sehr früh am Morgen, und die Kühle der Nacht war noch nicht verflogen.
Winkels folgte der Truppe in einigem Abstand. Dröver hatte ihm sehr genaue Anweisungen erteilt, und er hatte beschlossen, sie ausnahmsweise auch zu befolgen.
Wenige Minuten später betrat er die Wohnung, die er bereits kannte. Diesmal roch es nicht nach dem süßlichen Duft der Joints. Dafür ging es drinnen lautstark zu.
Mit einem Blick überflog er die Szene.
Holger Bartels kniete auf dem Boden, festgehalten von zwei Polizisten, die ihm gerade Handschellen anlegten. Er trug nur knallbunte Shorts und zeterte lauthals. Seine Stiefmutter stand fassungslos daneben und verstand offensichtlich nicht, was gerade geschah. Sie trug ein bodenlanges Nachthemd, das mit goldenen Sternen bedruckt war.
„Ich verhafte Sie, da wir Ihnen mehrere Morde zur Last legen. Sie brauchen sich jetzt nicht dazu zu äußern und können einen Anwalt zu Rate ziehen.“
„Das ist alles ihre Schuld!“ brüllte Holger in Richtung seiner Stiefmutter.
Er zitterte vor Wut.
„Ich wollte das nicht! Sie müssen die da festnehmen. Ich habe überhaupt nichts getan.“
Er zerrte weiter an seinen Fesseln, doch die Polizisten waren wachsam und hatten ihn fest im Griff.
Frau Bartels war in einen Sessel gesunken und hatte die Hände vor ihr Gesicht geschlagen. Sie schluchzte leise.
„Nehmen Sie seine Abdrücke“, befahl Dröver einem Mann der Spurensicherung, der daraufhin sämtliche Fingerkuppen von Holger Bartels nacheinander auf sein transportables Lesegerät drückte. Damit konnte ein sofortiger Vergleich mit dem in der Datenbank gespeicherten Abdruck erfolgen, den sie im Krankenhaus sichergestellt hatten.
Alle warteten schweigend auf das Ergebnis der Untersuchung. Selbst Holger Bartels schien sich seinem Schicksal ergeben zu haben und hatte den Kopf auf das Brustbein sinken lassen.
Der Techniker ließ den kleinen Monitor auf seinem Gerät nicht aus den Augen. Schließlich nickte er.
„Stimmt überein.“
Dröver atmete erleichtert aus und warf Tjade Winkels einen dankbaren Blick zu. Er trat auf Frau Bartels zu. Eine weitere Beamtin folgte dicht.
„Und Sie, Frau Sieglinde Bartels, werden beschuldigt, Frau Erna Bräker ermordet zu haben, indem Sie die arme Frau vom Balkon stießen.“
Sieglinde Bartels schien aus einem Traum zu erwachen. Sie nahm die Hände vom Gesicht, die augen immer noch feucht, aber so etwas wie Kampfeswille blitzte in ihnen auf.
Sie deutete auf ihren Stiefsohn.
„Das war auch er!“, schrie sie mit überkippender Stimme. Ihre Augen waren jetzt weit aufgerissen.
„Wir haben eine Zeugin“, sagte Dröver fast sanft.
Er beugte sich etwas nach vorn.
„Sie wurden im Seniorenheim gesehen, als sie so schnell die Treppe hinuntereilten, dass Sie beinahe gestürzt wären.“
Holger Bartels verlegte sich auf Jammern und Flehen. Er sei nur ein Opfer seiner bösen Stiefmutter, die ihn immer nur ausgenützt hätte. Er sei viel zu gutmütig, um so schreckliche Sachen zu tun.
Die beiden Polizisten hatten ihn inzwischen auf die Beine gestellt, und der kräftige Mann wirkte jetzt wie ein Häufchen Elend.
Sieglinde Bartels – Winkels hörte heute den Namen zum ersten Mal – weinte und stöhnte wieder, während ihr die Kriminalbeamtin ebenfalls Handschellen anlegte.
„Der Untersuchungsrichter wird sich Ihre Aussagen gern anhören“, bemerkte Dröver schließlich.
Seine Miene nahm entschlossene Züge an.
„Führt die beiden Jammergestalten ab!“
Er wartete, bis sie draußen waren, dann winkte er zwei Kollegen der Spurensicherung heran, die sich bis eben im Hintergrund gehalten hatten um den Ablauf der Verhaftung nicht zu stören.
„Die Wohnung gehört euch.“
Tjade Winkels hatte wortlos zugesehen.
Jetzt konnte er sich gut zurücknehmen, denn ihn erfüllte eine tiefe Befriedigung, dass er den entscheidenden Hinweis beigetragen hatte, um die Schuldigen zu entlarven, wobei er sich insgeheim eingestehen musste, dass er die Stiefmutter von Holger Bartels nicht im Verdacht gehabt hatte.
Immerhin war ein weiterer Mord damit verhindert worden. Denn irgendwann hätten die beiden Heinz Bartels aus dem Weg räumen müssen, um an das Geld zu kommen.
Uwe Dröver wandte sich an Tjade. Auch ihm konnte man jetzt deutlich ansehen, wie die Anspannung langsam abfiel und der Routinier zum Vorschein kam.
„Unsere Beweislage ist nach wie vor ziemlich dünn. Ein Fingerabdruck auf einer Plastikfolie, ein Schuhabdruck an einer Leiter, die Anwesenheit der Frau im Seniorenheim – ein guter Anwalt würde das alles als gegenstandslos hinstellen.“
„Mag sein“, entgegnete Winkels. „Doch ich bin sicher, dass die beiden sich so ausführlich gegenseitig belasten werden, dass der Staatsanwalt nur mitzuschreiben braucht. Ich kenne diese Typen. Sie würden zum Schluss alles tun, wenn sie ihre eigene Haut retten können. Die Frage ist nur, wer den ehemaligen Mittäter am