»Und alle Juden, natürlich«, ergänzte Dr. Veilchenfeld.
»Nein, dottore, nur die aus Deutschland!«
Mehr als hundert Emigranten, meist ältere Leute, unter ihnen einige, die sie kannten, warteten mit ihnen zusammen viele Stunden, bis die beiden Beamten, die deutschen Namen mühsam buchstabierend, endlich alle Verhafteten registriert, deren Personalien, einschließlich der Namen ihrer Väter und Mütter, sorgfältig in das dicke Eingangsbuch eingetragen hatten. Putti warf immer wieder besorgte Blicke auf seinen Vater, der kein Wort sprach und wie versteinert wirkte.
Adolf Hitler und Benito Mussolini
Als sie endlich an der Reihe waren, ihre Personalien anzugeben, war es bereits nach Mitternacht. Aber der schon recht erschöpft wirkende Beamte hatte nichts von seiner Geduld und Freundlichkeit eingebüßt.
»Ah, Sie sind aus Berlin! Das ist eine schöne Stadt, deren Namen mir keine Schwierigkeiten macht. Ende gut – alles gut! Sie sind die letzten … Lassen Sie nicht den Kopf hängen, dottore! Unsere alte Himmelskönigin ist zwar kein Grandhotel, aber wir sind auch keine Menschenfresser. Wir sind froh, wenn wir es nicht mit Verbrechergesindel zu tun haben, sondern mit zivilisierten, gebildeten Menschen. Sie haben halt Pech gehabt – das ist alles!«
Durch endlose Gänge und Eisentüren brachte man sie dann zu ihren Zellen.
»Bitte sehr!«, sagte der Wärter und schloss hinter ihnen ab. Es waren schlimme Stunden, die sie dann in der Zelle verbrachten. Die harten Pritschen mit den vor Schmutz starrenden Decken, der übelriechende Abortkübel und selbst die Wanzen, die sie bald zu plagen begannen, waren indessen nicht halb so schwer zu ertragen wie die bittere Enttäuschung aller ihrer Hoffnungen, die Ungewissheit ihres weiteren Schicksals und die Sorge um die zu Hause allein und verzweifelt zurückgebliebene Lotte.
Diesmal war es Putti, der den Vater aufzuheitern versuchte: »Emigranten haben einen großen Vorteil: Sie kennen keine Langeweile, sondern erleben dauernd Überraschungen. Heute, zum Beispiel, da radelte ich morgens in Uniform zur Schule, weil das Lycée den Vorbeimarsch beim Hitler-Besuch proben musste. An der Piazza Croce Rossa kam mir ein großes schwarzes Auto entgegen, in dem der Duce saß. Als guter avanguardisto sprang ich vom Rad und grüßte stramm. Er nickte mir freundlich zu wie einem alten Bekannten, denn wir begegnen uns ziemlich häufig. Nachmittags im Excelsior erzählte ich der Contessa Bragnini davon, und sie sagte: ›Der Duce mag dich, Riccardo! Da wirst du es weit bringen!‹, und schau, wie recht sie hat!«
Aber er hatte keinen Erfolg mit seinen Aufheiterungsversuchen. Erst am nächsten Morgen, als man sie gegen neun Uhr aus ihrer Zelle holte und in ein leeres Büro führte, ohne dass sie dort eingeschlossen wurden, ließ bei seinem Vater die nervöse Spannung etwas nach, und sein Lebensmut schien zurückzukehren.
Noch eine Stunde, die ihnen endlos erschien, ließ man sie warten, denn der italienischen Bürokratie war jede Hast fremd. Ein Angestellter mit Ärmelschonern steckte den Kopf zur Tür hinein und fragte, wie man Eichelbaum schriebe.
Schließlich kam ein ebenso freundlicher Beamter, der ihnen umständlich erläuterte, dass sie entlassen wären und nach Hause gehen könnten. Nur müssten sie versprechen, für die Dauer des »Führerbesuchs« in Rom keinesfalls ihre Wohnung zu verlassen, sich auch nicht an den Fenstern oder auf dem Balkon zu zeigen.
»Glaubt vielleicht jemand, wir wollten ihm Blumen oder Konfetti streuen?«
Diesmal lächelte nicht nur der Beamte, sondern auch Puttis Vater.
Vor dem Gefängnistor wartete Willy Karol auf sie in einem Taxi, dessen Zähler bereits eine stattliche Summe anzeigte. Karol kam ihnen rasch entgegen und umarmte sie. Er sah müde aus.
»War es sehr schwierig …?«, fragte Curt seinen Freund.
»Schwierig war es nur, einen der hohen Herren zu finden«, sagte Karol und gähnte. »Ich habe die Nacht mit der Inspektion aller Night Clubs und geheimen Lasterhöhlen von Rom verbracht. Falls die Sittenpolizei einen Experten braucht: Ich wäre jetzt der richtige Mann! Erst gegen fünf Uhr früh wurde ich fündig – dann war es eine Kleinigkeit, eure Freilassung zu erwirken. Erheblich langwieriger war es, anschließend den Instanzenweg zu durchlaufen – bis zu dem Beamten, der das Tor auch tatsächlich aufschließen kann … Jedenfalls habt ihr nun nichts mehr zu befürchten. Nehmt es als ein betrübliches Versehen – es wird sich nicht wiederholen! Und der zuständige Parteifunktionär, der euch im Auge behalten muss, bis Hitler wieder abgereist ist, wird euch keine Schwierigkeiten machen …«
»Auch das noch! Ein Aufpasser!« Curt war ganz deprimiert. »Und wieso bist du sicher, dass er uns …«
»Reg dich nicht auf, Curt«, fiel ihm Karol ins Wort, »der zuständige Funktionär heißt Peppino und ist euer Hausmeister …«
Putti lachte, auch sein Vater beruhigte sich nun wieder.
Als sie vor ihrem Haus hielten, riss ihnen der Taxifahrer die Tür auf, zog die Mütze und verbeugte sich tief. Er hatte Karol schon die ganze Nacht hindurch herumgefahren und mehr eingenommen als sonst in einem Monat.
»Wir drehen einen Film über den historischen Besuch des ›Führers‹ in Rom«, sagte Karol und gab dem Fahrer noch ein nobles Trinkgeld. »Diese ebenfalls historische Taxiquittung gehört natürlich zu den Vorkosten, die wir dem Goebbels-Ministerium in Rechnung stellen …«
»Buon giorno, Signore dottore, benvenuto Signorino Riccardo! Welch ein Glück, dass Sie wieder zu Hause sind!« Peppino, freudig bewegt, öffnete schon die Aufzugstür für sie. »Mi scusi, per favore! Mi dispiace molto, Signore dottore!«, versicherte er ihnen. »Non se l’abbia a male, prego!«
Aber obwohl nun äußerlich der Alltag wieder einkehrte, sollte es noch etliche Wochen dauern, ehe sich Eichelbaums von dem Schrecken erholten.
Dann, Ende Juli 1938, als sich schon die Sommerhitze über Rom gelegt hatte und alle Aktivitäten erlahmten, gab es eine neue Überraschung, doch diesmal eine erfreuliche: Eine amerikanische Filmgesellschaft von internationalem Rang bot Dr. Eichelbaum, dessen Ruf als hervorragender, branchenerfahrener Jurist inzwischen auch die Chefetagen von Hollywood erreicht hatte, einen langfristigen, gutdotierten Vertrag an; er sollte künftig allein ihre umfangreichen Interessen in Italien vertreten!
»Wir haben es geschafft!«, erklärte Puttis Vater strahlend, als er von den Verhandlungen nach Hause kam.
»Bleiben wir in Rom?«, wollten Frau und Sohn wissen.
»Auf alle Fälle! Ich werde nur ab und zu nach Mailand oder Venedig reisen müssen – das nächste Mal in vier Wochen zur Unterzeichnung der Verträge. Und bis dahin – so habe ich mir gedacht – machen wir endlich mal wieder Urlaub und erholen uns ein bisschen! Wir könnten zum Beispiel nach Como fahren und Erbslöhs besuchen. Was haltet ihr davon?«
Lottchen und auch Putti stimmten begeistert zu.
September 1938. Münchner Abkommen zwischen Deutschland, Italien, Frankreich und England spricht Deutschland die West-CSR (Sudetenland) zu; Hitler verspricht feierlich, dass damit seine territorialen Ansprüche befriedigt sind.
9. November 1938. »Reichskristallnacht« genannte größte Judenverfolgung der Neuzeit. Zerstörung nahezu aller Synagogen, jüdischen Wohnungen und Geschäfte, umfangreiche Plünderungen, zahlreiche Tote und Verletzte sind die Folge. Den deutschen Juden wird die Bezahlung des Schadens auferlegt; 35.000 kommen als Geiseln in KZs.
März 1939. Deutsche Truppen marschieren in die »Rest«-Tschechoslowakei ein, die zum »Protektorat Böhmen und Mähren« erklärt wird, und besetzen auch das litauische Memelgebiet.
7. April 1939. Italien überfällt Albanien und besetzt das Land.