Ein verborgenes Leben (Steidl Pocket). Sebastian Barry. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sebastian Barry
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783958299474
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wo all der Staub herkommt«, sagte er. »Jeden Tag fege ich das Zimmer aus, aber dauernd liegt da Staub, weiß Gott, uralter Staub. Nicht etwa neuer Staub, niemals neuer Staub.«

      »Nein«, sagte ich. »Nein. Verzeihen Sie.«

      Er richtete sich einen Moment auf und sah mich an.

      »Wie heißen Sie?«, fragte er.

      »Ich weiß nicht«, sagte ich in einem Anfall von Panik. Ich kenne ihn schon seit Jahrzehnten. Warum stellte er mir diese Frage?

      »Sie wissen Ihren eigenen Namen nicht?«

      »Ich weiß ihn. Ich vergesse ihn.«

      »Warum klingen Sie so erschrocken?«

      »Ich weiß nicht.«

      »Dazu besteht keine Veranlassung«, sagte er, fegte den Staub sorgsam auf sein Kehrblech und schickte sich an, das Zimmer zu verlassen. »Wie auch immer, ich weiß Ihren Namen.«

      Ich fing an zu weinen, nicht wie ein Kind, sondern wie die alte, alte Frau, die ich bin, langsame, leichte Tränen, die niemand sieht, die niemand trocknet.

      Ehe mein Vater wusste, wie ihm geschah, brach der Bürgerkrieg über uns herein.

      Ich schreibe dies nieder, um meine Tränen zu stillen. Ich stoße die Worte mit meinem Kugelschreiber in das Papier, als wollte ich mich selbst festheften.

      Vor dem Bürgerkrieg gab es einen anderen Krieg, einen Krieg dagegen, dass das Land von England aus regiert wurde, aber in Sligo fanden keine größeren Kämpfe statt.

      Ich zitiere Jack, den Bruder meines Mannes, wenn ich dies schreibe, oder zumindest höre ich aus meinen Sätzen Jacks Stimme heraus. Jacks verschwundene Stimme. Neutral. Wie meine Mutter war Jack ein Meister des neutralen Tonfalls, wenn auch nicht der Neutralität. Denn am Ende zog Jack sich eine englische Uniform an und kämpfte in jenem späteren Krieg – fast hätte ich gesagt, in jenem echten Krieg – gegen Hitler. Auch er war ein Bruder von Eneas McNulty.

      Die drei Brüder Jack, Tom und Eneas. O ja.

      Im Westen Irlands besteht der Name Eneas übrigens aus drei Silben: En-i-as. In Cork, fürchte ich, sind’s nur zwei, und es hört sich eher nach Anus an.

      Aber der Bürgerkrieg wurde durchaus in Sligo und an der gesamten Westküste ausgefochten, mit grimmigem Eifer.

      Die Freistaatler hatten den Vertrag mit England akzeptiert. Die sogenannten Irregulären hatten davor zurückgescheut wie Pferde vor einer zerstörten Brücke im Dunkeln. Denn der Norden des Landes war aus der ganzen Angelegenheit ausgespart worden, und ihnen kam es so vor, als sei ein Irland ohne Haupt akzeptiert worden, ein Torso, dem der Kopf abgeschlagen worden ist. Es war Carsons Bande im Norden, die sie weiterhin an England fesselte.

      Es war mir stets ein Rätsel, weshalb Jack sich so stolz damit brüstete, ein Cousin von Carson zu sein. Aber das nur am Rande.

      Damals herrschte in Irland viel Hass. Ich war vierzehn, ein Mädchen, das versuchte, in die Welt hinauszublühen. Überall Wut und Hass.

      Lieber Father Gaunt. So darf ich Sie doch anreden? Nie zuvor hat ein so rechtschaffener und ehrlicher Mann einem jungen Mädchen so viel Schmerz zugefügt. Denn ich glaube nicht einen Moment lang, dass er aus böser Absicht gehandelt hat. Und doch hat er mich kujoniert, wie die Landbevölkerung es nennt. Und in der Zeit davor hatte er meinen Vater kujoniert.

      Ich habe schon gesagt, dass er ein kleiner Mann war. Damit meine ich, dass sein Scheitel den meinen nicht überragte. Geschäftig, hager und gepflegt mit seinen schwarzen Kleidern und seinem kurz geschorenen Haar wie ein zum Tode Verurteilter.

      In meine Gedanken drängt sich die Frage: Was meint Dr. Grene damit, dass er meinen Fall neu bewerten muss? Damit ich hinausgehen kann in die Welt? Wo ist diese Welt?

      Er muss mich befragen, hat er gesagt. Hat er. Da bin ich mir sicher, und doch höre ich ihn so richtig erst jetzt, da er schon lange aus dem Zimmer ist.

      Die Panik in mir ist schwärzer als abgestandener Tee.

      Ich bin wie mein Vater auf seinem alten Motorrad, der, na klar, in rasendem Tempo dahinjagt, sich aber so am Lenker festklammert, dass er eine Art Sicherheit genießt.

      Lösen Sie bloß nicht meine Finger vom Lenker, Dr. Grene, ich flehe Sie an.

      Fort aus meinen Gedanken, guter Doktor.

      Father Gaunt, eilen Sie herbei aus den Schlupfwinkeln des Todes, eilen Sie herbei und nehmen Sie seinen Platz ein.

      Stellen Sie sich vor mich hin, während ich krickele und krakele.

      Der folgende Bericht mag sich anhören wie eine der Geschichten meines Vaters aus seinem kleinen Evangelium, aber diese hat er nie so richtig zum Vortrag gebracht oder so ausgeschmückt, dass sie sich wie zu einem Lied rundet. Ich liefere Ihnen sozusagen die bloßen Knochen, mehr habe ich nicht zu bieten.

      Im Lauf dieses Krieges gab es zweifellos viele Todesfälle, und viele Todesfälle, die eigentlich nichts anderes waren als Mord. Natürlich oblag es meinem Vater, einige von diesen Toten auf seinem schmucken Friedhof beizusetzen.

      Mit vierzehn war ich noch halb Kind und schon halb Frau. Ich besuchte eine kleine Klosterschule und war durchaus nicht gleichgültig gegenüber den Jungs, die nach dem Unterricht am Schultor vorüberschlurften, ja, ich scheine mich sogar daran zu erinnern, dass ich glaubte, von ihnen steige eine Art Musik auf, eine Art menschlichen Gesumms, das ich nicht begriff. Wie ich darauf kam, von so rohen Gestalten Musik aufsteigen zu hören, weiß ich aus dem Abstand dieser Jahre nicht mehr. Aber das ist nun mal die Zauberkunst der Mädchen: Sie verwandeln bloßen Lehm in große, klassische Ideen.

      So schenkte ich also meinem Vater und seiner Welt nur halbe Aufmerksamkeit. Ich war mehr mit meinen eigenen Mysterien befasst, etwa mit der Frage, wie ich meinen grässlichen Haaren Locken einbrennen konnte. Viele, viele Stunden mühte ich mich mit dem Krageneisen meiner Mutter ab, mit dem sie immer das Sonntagshemd meines Vaters bügelte. Es war ein schlankes, schmales Gerät, das sich auf der Kaminplatte rasch erhitzte, und wenn ich meine glatten gelben Strähnen auf dem Tisch ausbreitete, hoffte ich, durch Alchimie Locken in sie hineinzaubern zu können. So war ich von den Ängsten und Ambitionen meines Alters völlig in Anspruch genommen.

      Dennoch hielt ich mich oft im Tempel meines Vaters auf, erledigte meine Hausaufgaben und genoss das kleine Kohlenfeuer, das er dank seiner Brennstoffbeihilfe dort unterhalten konnte. Ich lernte meinen Unterrichtsstoff und hörte ihm zu, wie er »Im Traume sah ich mich im Marmorsaal« oder dergleichen sang. Und sorgte mich um mein Haar.

      Was würde ich heute für ein paar Strähnen dieses glatten gelben Haares geben!

      Mein Vater beerdigte jeden, der ihm zur Beerdigung übergeben wurde. In Friedenszeiten beerdigte er meist die Alten und die Siechen, doch in Zeiten des Krieges wurde ihm häufig der Leichnam eines jungen Burschen oder eines nur unwesentlich Älteren gebracht.

      Dies bereitete ihm einen Kummer, den er sich bei den Alten und Schwachen nie anmerken ließ. Deren Tod, so dachte er, war unkompliziert und hatte seine Richtigkeit, und ob die Familienangehörigen und die Trauergäste am Grab nun weinten oder stumm blieben, er wusste, dass alle das Gefühl angemessener Lebensdauer und Gerechtigkeit hatten. Oft hatte er die alte Seele, die beigesetzt werden sollte, persönlich gekannt und teilte Erinnerungen und Anekdoten, wenn es ihm tröstlich und angemessen erschien. In diesen Fällen war er eine Art Diplomat des Leides.

      Doch die Leichen der im Krieg Gefallenen betrübten ihn sehr, und zwar auf andere Weise. Man könnte meinen, als Presbyterianer sei ihm in der irischen Geschichte kein Platz vergönnt gewesen. Doch Rebellion, das verstand er. In einer Schublade in seinem Schlafzimmer verwahrte er ein Gedenkbuch an den Osteraufstand 1916 mit Fotos der wichtigsten Teilnehmer und einem Kalender der Kämpfe und Kümmernisse. Das einzig Schlimme, das der Aufstand für ihn beinhaltete, war dessen eigentümlich katholisches Ethos, von dem er sich natürlich ausgeschlossen fühlte.

      Es war der Tod der jungen Männer, der ihn betrübte. Immerhin waren seit dem Gemetzel des Ersten Weltkriegs nur wenige Jahre vergangen. Von