Deutsch-Schweizer Freundschaft
KAPITEL 9: GRUPPENZUGEHÖRIGKEIT
„Ohana“: Große Ironman-Familie
Gruppe der leistungsorientierten Ironman
Gruppe der lebensstilorientierten Ironman
VORWORT
„Das Leben ist kein Sprint, sondern ein Ironman.“
Im Jahr 1998 traf ich meine finnische Kollegin Minna auf einer wissenschaftlichen Konferenz in Rom. Wir vereinbarten, nach den Vorträgen gemeinsam die berühmten Decken- und Wandmalereien von Michelangelo in der Sixtinischen Kapelle zu besichtigen. Das gab uns Zeit und Muße, nicht nur über Berufliches, sondern auch Privates zu sprechen. Sie erzählte mir von ihrer Arbeit und der Trennung von ihrem damaligen Ehemann. Ich berichtete ihr von den Schwierigkeiten mit meiner Habilitationsschrift, von den Selbstzweifeln, für eine wissenschaftliche Karriere geeignet zu sein, von der unglücklichen Beziehung mit einer Schweizerin, dem emotionalen Auf und Ab, und davon, dass ich mich zu einem Ironman angemeldet hatte. Damals wog ich fast 80 Kilogramm, war somit leicht übergewichtig und wusste selbst nicht so genau, warum ich mich für den Triathlon über die Langdistanz entschieden hatte. Es schien mir eine interessante sportliche Herausforderung zu sein, die mich reizte. Minna gab mir als einfühlsame Frau jedoch prompt eine plausible, psychologische Erklärung dafür: Es ginge mir ihrer Meinung nach weniger um das Sportliche, sondern mehr um mich und mein Selbstwertgefühl. Offenbar versuche ich mit dem Ironman, mich wie Münchhausen am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen. Erstaunt blickte ich sie an, denn es war, als hätte eine Therapeutin zu mir gesprochen. Diese Erklärung leuchtete mir sofort ein und gab dem Unterfangen plötzlich einen viel tieferen Sinn. Die Vorbereitung auf den Ironman war nicht nur eine äußere Reise, die meine Pfunde schwinden ließ, sondern auch eine innere Reise zu mir selbst. Das Finish meines ersten Ironman 1999 in der Schweiz machte mich zu dem, der ich heute bin.
Seitdem absolvierte ich 23 Ironman-Rennen in den verschiedensten Ländern auf vier Kontinenten. Wenn ich von Ironman rede, dann meine ich damit alle Triathlons über die Langdistanz von 3,8 Kilometern Schwimmen, 180 Kilometern Radfahren und 42,2 Kilometern Laufen. Manche meiner Rennen fanden bei strömendem Regen und Kälte um die vier Grad Celsius statt, andere bei Sonne und Hitze um die 40 Grad. Trotz der äußeren Umstände und der inneren Kämpfe kam ich bei allen ins Ziel, worauf ich sehr stolz bin. Ich habe festgestellt, dass die Kontinuität im Training und der eiserne Wille, etwas zu Ende zu führen, was man einmal begonnen hat, meinem Wesen und meinen Überzeugungen zutiefst entsprechen. Das Leben ist kein Sprint, sondern ein Ironman.
Im Laufe der Jahre kamen neben dem Selbstwertgefühl andere, neue Aspekte hinzu, die ich mit dem Triathlon-Training und den jährlichen Rennen verband und die zunehmend in den Vordergrund rückten: Es waren der Drang, mich selbst zu verbessern, die eigenen Leistungsgrenzen weiter hinauszuschieben, die damit verbundenen Körperwahrnehmungen und Naturerfahrungen, die ich vorher nie in dem Ausmaß gemacht hatte, einmalige Reisen, die mich bis ans andere Ende der Welt führten, und tiefe Freundschaften, die mich mit manchen Menschen noch heute verbinden. Vor dem Schreiben dieses Buches waren mir die vielen verschiedenen Aspekte jedoch noch nicht in dieser Klarheit bewusst.
Die Suche nach dem tieferen Sinn des Ironman begann bereits vor einigen Jahren. Nachdem mit meinem Finish beim Ironman Hawaii 2016 ein lang gehegter Traum in Erfüllung gegangen war, erklärte ich im Familien- und Freundeskreis meinen Rücktritt vom Wettkampfsport. „Man soll aufhören, wenn es am schönsten ist“, heißt es im Volksmund. Ich hatte mir vorgenommen, mich neben dem Ausdauersport vermehrt anderen Dingen zu widmen. Mit der Zeit stellte ich jedoch verwundert fest, dass mir etwas fehlte. Ich spürte, dass der Triathlon für mich mehr war als ein sportlicher Ausgleich zum Beruf. Er ist ein Teil meiner Identität geworden. So startete ich drei Jahre nach meinem Rücktritt erneut bei einem Ironman – und fühlte mich, als sei ich endlich wieder heimgekommen. Seither trainiere ich unter Anleitung eines Coaches und bin – trotz fortgeschrittenen Alters – so fit wie seit zehn Jahren nicht mehr.
Warum begleitet mich der Ironman weiter im Leben? Was fasziniert mich an ihm? Worin besteht der tiefere Sinn für mich? Diese Fragen beschäftigten mich und gingen mir lange Zeit im Kopf herum. Am Anfang wollte ich sie einzig für mich selbst klären und einen kleinen Reflexionsaufsatz dazu schreiben – so, wie ich es mit meinen Erlebnisberichten der Ironman-Rennen gemacht hatte, die stets großen Anklang bei Familie, Freunden und Bekannten fanden. Doch dann kam COVID-19 und damit eine Zäsur, nicht nur für die gesamte Gesellschaft, sondern auch für die Welt des Sports. Ich war im März 2020 mit Triathlon-Freunden in einem Trainingslager auf Mallorca, als ich den ersten Lockdown erlebte. Wir waren von heute auf morgen angewiesen, in unserem Apartment zu bleiben und mussten gezwungenermaßen Ruhetage einlegen, anstatt unsere Königsetappe mit dem Rad von Alcúdia über das Kloster Lluc zur Bucht von Sa Calobra zu fahren. Jan Frodeno, Triathlon-Olympiasieger 2008 und dreifacher Ironman Hawaii Champion, veröffentlichte in diesem Zeitraum ein Foto auf Instagram, das ihn beim Laufen in einem dunklen Tunnel zeigt, an dessen Ende Licht zu sehen ist. „Chasing the light at the end of the tunnel. Only when it is taken away … you realise the true value and freedom of a run in the great outdoors”, schrieb er in seinem Post. Geprägt von den Eindrücken des Lockdowns, der die Bewegungsfreiheit erheblich einschränkte und in Spanien, Italien und Frankreich einer Ausgangssperre gleichkam, hob Jan Frodeno den Wert eines Laufes in der freien Natur hervor. Vieles lernt man erst zu schätzen, wenn man es nicht mehr hat.
Als klar wurde, dass fast alle Wettkämpfe im Jahr 2020 ausfallen würden, stellten sich viele Triathleten die Frage nach dem Sinn ihres Trainings. Manche