Grenzgänger: Deutsche Interessen und Verantwortung in und für Europa. Joachim Bitterlich. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Joachim Bitterlich
Издательство: Автор
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Жанр произведения: Историческая литература
Год издания: 0
isbn: 9783838274508
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unter amerikanischem Beschuss, hatte sie doch die Lieferung von Kernkraftwerken und umfassenden Systemen in Länder auf das Gleis gesetzt, die den Kernwaffensperrvertrag zwar unterzeichnet hatten, aber dennoch zugleich lange Jahre verdeckt oder offen auch nukleare militärische Ambitionen hegten oder, vorsichtig gesagt, zu hegen schienen. Länder wie Brasilien, Argentinien und Iran – und viele andere – standen Schlange, um Kernkraftwerke „Made in Germany“ zu kaufen.

      Sie wollten letztlich den gesamten nuklearen Kreislauf beherrschen, von der Urananreicherung über die zivile Nutzung der Kernenergie bis hin zur Wiederaufarbeitung. Und gerade in der Anreicherung wie Wiederaufarbeitung liegen die möglichen Weichenstellungen, Kernwaffen zu entwickeln.

      Die Bundesregierung war ernsthaft bemüht, durch Mitarbeit und Anwendung von international erarbeiteten Kontrollmechanismen, den sog. „Nuclear supplier guidelines“, solche Möglichkeiten zu reduzieren, wenn nicht auszuschließen. Und schon damals war ich bestürzt über manche Naivität in dieser hoch sensiblen Materie, nicht zuletzt seitens der Wirtschaft. Der Problemfall war 1977 nicht der Iran, sondern vielmehr Libyen. Allen Ernstes meinte damals eine namhafte deutsche Firma, die Bundesregierung werde ihr den Export ausgerechnet in dieses Land genehmigen!

      Apropos Iran – erst über die Jahre habe ich erfahren müssen, dass dessen Wirtschaft und Industrie in sensiblen Bereichen, einschließlich der Nuklearwirtschaft, unter dem Schah nicht nur von Deutschland, sondern vor allem von den Amerikanern und Franzosen, aber auch von den Israelis gefördert worden war. Und „unter dem Tisch“ wussten die Beteiligten schon damals, dass es dem Schah auch um das Potential von Kernwaffen ging! Sie förderten auch insoweit den Iran, ob bewusst oder unbewusst, will ich dahingestellt sein lassen. Und es ist daher wenig verwunderlich, dass gerade die Beziehungen insbesondere zu Israel und den USA mit dem Iran nach 1979 nicht abrupt abrissen und die „Wirtschaft“ mit Duldung seitens der Politik immer wieder Wege für die Umgehung von Embargo-Bestimmungen fand.

      Unter dem Titel „Der Feind meines Feindes – Geschichte einer seltsamen Freundschaft“ hat vor einiger Zeit ein deutscher Wissenschaftler anschaulich auf Grundlage öffentlich zugänglicher Quellen dieses komplexe, geschichtlich belastete Verhältnis beschrieben. Ich ahnte nicht, dass die Entwicklung dieser Region und dieses Land mich in Zukunft immer wieder beschäftigen sollte. Heute scheint mir, dass es uns in Deutschland wie in Europa an strategischem Denken und Zugang gegenüber diesem Land wie der Region insgesamt fehlt.

      Nuklearpolitik war naturgemäß zugleich auch Innenpolitik. Und in den 70er Jahren begann sich in Deutschland das Ende der Verwendung, zumindest zusätzlicher Nutzung der Kernenergie abzuzeichnen. Es gab in Deutschland in der Bevölkerung im Gegensatz zum Nachbarn Frankreich keine Mehrheit für die Nutzung der Kernenergie. Damals scheiterte im badischen Whyl der letzte geplante Neubau eines Kernkraftwerkes aufgrund anhaltender Demonstrationen.

      Man darf nicht vergessen, woher die Demonstranten damals „gefüttert“ und unterstützt wurden: aus dem gegenüberliegenden Elsass, wo es gegen die einzige dortige Kernkraftanlage in Fessenheim und angesichts ihrer regelmäßigen Störanfälligkeit oft genug Proteste gegeben hatte, die aber von der französischen „Obrigkeit“ im Keime erstickt wurden. Auf deutscher Seite war halt vieles leichter.

      Ich hatte zwei Jahre zuvor bei meinem ENA-Praktikum an der Regionalpräfektur in Metz die geräuschlose Ingangsetzung der Verfahren zum Bau des Kernkraftwerks Cattenom in Lothringen an der Mosel miterlebt: durch „Aushang“ an den zuständigen örtlichen Stellen. Die Nachbarn Luxemburg und Saarland – das Kraftwerk ist 10 bzw. 20 km von der Grenze entfernt! – wurden sorgfältig ferngehalten und erst nach Jahren immer wieder vorgetragener Proteste immerhin in die Notfallplanung miteinbezogen.

      In gewisser Weise sind Fessenheim und Cattenom bis heute Stein des Anstoßes in Deutschland, vor allem in den Grenzregionen. Zusammen mit Tschernobyl und Fukushima haben sie dazu beigetragen, dass die Nuklear-Skepsis in Deutschland zugenommen hat und Frankreich und Deutschland in der Energiepolitik auseinandergedriftet sind.

      Ahnen konnte ich damals nicht, dass mich Jahre später als Aufsichtsrat eines deutschen bekannten Energieversorgers – EnBW, Energie Baden-Württemberg – Kernenergie wieder beschäftigen würde und zudem eine alte Bekannte aus dem Elysée in Paris mich dazu einladen wollte, wieder in die Nuklear-Politik einzusteigen. Sie bot mir die Leitung dessen an, was in Deutschland von der Kraftwerk Union, der KWU geblieben war, der ich einst als Praktikant verbunden war. Ich habe, Gott sei Dank, noch rechtzeitig die Falle bemerkt und abgewunken! Sie suchte in Wahrheit, und zwar unter Umgehung und wohl gegen den Willen des deutschen Mitaktionärs Siemens einen deutschen „Abwickler“ oder „Sündenbock“ für das Scheitern nuklearer Zusammenarbeit.

      Ähnlich spannend waren einige Monate an der Botschaft in Madrid. Vertiefung der spanischen Sprachkenntnisse war die Zielsetzung, doch weitaus interessanter war es, erstmals – und das ohne Verantwortung – eine Botschaft in der Praxis kennen zu lernen und vor allem Spanien auf seinen ersten Schritten Richtung Demokratie nach dem Tode Francos näher zu beobachten.

      Dank des von der Botschaft engagierten Sprachlehrers hatten wir die Chance, den ersten Persönlichkeiten dieser jungen Demokratie, auf der rechten wie auf der linken Seite, zu begegnen oder zum Schrecken der Botschaft dank spanischer Studenten aus dem Umkreis der Sozialisten die erste große Demonstration der spanischen KP aus unmittelbarer Nähe mitzuerleben. Die spanische Kommunistische Partei wollte damals den Regierenden zeigen, dass sie unverändert in der Lage ist, Massen zu mobilisieren. Es waren 500.000 Menschen an der Plaza Colon in Madrid und über dem Platz kreiste lange Zeit ein Militär-Hubschrauber. Erst längere Zeit danach wurde bekannt, dass der spanische König die Machtdemonstration der KP „von oben“ beobachtete. Der Botschafter selbst schien entsetzt über eine solche „Naivität“ der Jung-Diplomaten, wir konnten so aber die Stimmung und Herausbildung einer jungen und zugleich wehrhaften Demokratie miterleben.

      Es war für mich als jungen Attaché zugleich faszinierend, mit einem Mann der konservativen Rechten, Manuel Fraga Iribarne, über seinen Verfassungsentwurf diskutieren zu dürfen, der (sehr) der Verfassung der V. Republik in Frankreich nachgebildet schien, oder eben mit jungen Sozialisten um Felipe Gonzalez an langen Abenden über den Weg Deutschlands nach dem Kriege und den der deutschen Sozialdemokratie zu disputieren. Ich verstand nicht, wie die deutsche Politik – mit Ausnahme von Willy Brandt – gerade dieses Talent einschätzte. Dieses Land sollte mich auch in der Folge nie mehr loslassen.

      Meine Neugierde für die arabische Sprache hatte mir zudem nach einem einjährigen abendlichen „Schnupperkurs“ an der Universität in Bonn einige Monate Intensivkurs an der Botschaft Kairo beschert, den Einblick in eine andere Welt, in ein anderes Denken, in eine andere Kultur. An sich sollte es damals für einige Monate in den Libanon gehen in eine der anerkanntesten Sprachschulen in Shemlan – der aufkommende Bürgerkrieg hatte die Schule aber gezwungen, nach Kairo auszuweichen.

       „Total immersion“ nennt man in der Fachsprache einen solchen Kurs – täglich 6 Stunden Sprachunterricht, daneben eine nur sehr lockere Anbindung an die Botschaft, dafür in größerer Intensität der Einblick in das Leben dieser Millionenstadt, im Grunde kulturell weniger arabisch, denn ägyptisch geprägt. Daraus wurde zugleich ein echter, ungeschminkter Einblick in das politische und gesellschaftliche Leben Kairos, einschließlich der religiösen Grundfragen, eine Möglichkeit, die