ibidem-Verlag, Stuttgart
Inhalt
2. Einsätze eines kritischen Posthumanismus
Für einen kritischen Posthumanismus
Inhalte, Methoden und Ziele eines kritischen Posthumanismus
Dezentrierung des Menschen und kritisch posthumanistische Subjektivität
Relationalität und Prozessualität statt Substantialität und Fixiertheit
3. Rosi Braidottis Konzeption einer feministisch-nomadischen Subjektivität
Nomadische Subjektivität, nomadische Ethik und die »Politik der Affirmation«
Minoritäre, rhizomatische Politiken
4. Implizite Annahmen und Konsequenzen moderner Subjektkonzeptionen
Eine andere Metaphysik, ein anderer Metaphysikbegriff
Die Bifurkation der Natur als ›implizite Metaphysik der Moderne‹
Denken im Modus von Substanz und Attribut
Natur als ›meaningless complex of facts‹
Die Kritik der Abstraktionen als Aufgabe der Philosophie
5. A. N. Whiteheads radikale Rekonstruktion des Subjektbegriffs
Die fundamentale Erweiterung des Erfahrungsbegriffs
Subjekte als relational-prozessuale Erfahrungsereignisse
›Societies‹ oder von Menschen, Steinen und Elektronen
Genetische Subjektivität oder actual entities als ›Subjekt-Superjekte‹
Für meine Nichten
1. Hinführung
»[P]hilosophy should be an effort to
go beyond the human state.«
Henri Bergson (2007: 209)
›Die Natur schlägt zurück‹ – so oder so ähnlich lässt sich spätestens seit der durch das SARS-CoV-2-Virus ausgelöste Pandemie die allgemeine Losung nicht nur in Öko-Dystopien und Climate-Fiction, sondern auch in den Feuilletons und Nachrichten zusammenfassen. Denn seit der Klimawandel nicht mehr nur in den Ländern des sogenannten Globalen Südens Halt macht, sondern eine unmittelbare Bedrohung für die Zentren des Globalen Nordens und den globalen Kapitalismus darstellt (sei es durch Dürren oder Klimaflüchtende), ist die einst vorwiegend in Fachkreisen und den Ökologiebewegungen ab den 1960er Jahren diskutierte Frage nach dem falschen beziehungsweise richtigen Umgang des Menschen mit der Natur in die Mitte der westlichen Gesellschaften gerückt – man denke nur an die Fridays-for-Future-, die Extinction-Rebellion-Bewegung oder auch den Green New Deal, eine im Sinne des sogenannten green capitalism lancierte ökologische Wende innerhalb der Industriegesellschaften. Denn, so die mittlerweile weithin geteilte Überzeugung weit über die Fachwelt hinaus, die rasante Erhitzung der Erde, neue Ausmaße erreichende Naturkatastrophen und das steigende Risiko für Epidemien und Pandemien hingen maßgeblich davon ab, wie Menschen mit Tieren und Ökosystemen umgehen. Derart ist auch die bis vor Kurzem in erster Linie wissenschaftlich geführte Debatte um den Begriff des Anthropozäns, d.h. der Frage, ob ›wir uns‹ in einem geologischen Zeitalter befinden, in dem die Menschheit der größte geophysikalische Faktor auf dem Planeten Erde ist,1 unverhofft in die breite Öffentlichkeit übergeschwappt.
Spätestens mit dem Ausbruch der Pandemie ist also offenkundig geworden, dass das, was gemeinhin unter Natur verstanden wird, eine nicht weiter zu ignorierende Akteurin auf dem Weltmarkt der Kräfte darstellt. Dass ein Virus ganze Länder vor den Ruin zu stellen und den globalen Kapitalismus in eine seiner tiefsten Krisen zu stürzen vermag, verdeutlicht einmal mehr die besondere Aktualität kritisch posthumanistischer, neomaterialistischer Theoriebildung und der Philosophie Alfred North Whiteheads. Denn eine politische Ökologie, soll sie Natur weder reifizieren noch Lebensräume komplett zerstören, kann die Sphären Gesellschaft und ›materielle Natur‹ nicht länger als getrennte behandeln. In diesem Sinne nehmen beide Ansätze in Übereinstimmung mit den jeweils neuesten naturwissenschaftlichen Erkenntnissen eine radikale Neubestimmung von Natur und Materie vor. Statt Materie als immer schon passiv und ontologisch primär zu verstehen, zeichnen sich diese Ansätze dadurch aus, Körper, Dinge, Objekte, ja Materie selbst als prozesshaft und relational zu begreifen und ihr auf diese Weise Wirkmächtigkeit und Eigensinnigkeit zuzusprechen. Die materielle Natur erweist sich so als aktiv an der (Re-)Produktion der Welt beteiligt. Hierdurch haben diese Ansätze in den letzten Jahren nicht nur dazu beigetragen, hegemoniale Konzeptionen des Verhältnisses von Natur und Gesellschaft in Frage zu stellen, sondern ebenso dazu, zentrale philosophische und ebenso politisch-soziologische Kategorien und Konzepte wie Handlungsfähigkeit, Gesellschaftlichkeit, Subjektivität und Objektivität produktiv zu irritieren. Indem auf diese Weise Begriffe wie Akteur*innenschaft und Subjektivität aus ihrer bewusstseinsphilosophisch-anthropozentrischen Verengung gelöst werden, eröffnet sich ein theoretischer Raum, der nicht nur einen Ausweg aus der Kultur-Natur- beziehungsweise Materie-Geist-Dichotomie zu weisen vermag, sondern darüber hinaus das Potential birgt, den Grundstein für eine politische Ökologie jenseits eines romantisierenden, letztlich verdinglichenden Naturschutzes zu legen.
Hierfür die Philosophie des 1861 geborenen Alfred North Whiteheads, der vor allem auch für das gemeinsam mit Bertrand Russell verfasste dreibändige mathematische Grundlagenwerk Principia Mathematica (1910–1913) bekannt ist, mit kritisch posthumanistischem Denken zu