Henri reagierte nicht, sondern konzentrierte sich darauf, kaltes Wasser in das Glas mit dem Absinth vor ihm zu gießen. Das leuchtende Grün wurde milchig. Er probierte die Mischung. Dann trank er das Glas zügig leer. Auf sein Handzeichen hin brachte der Kellner noch mehr von dem giftgrünen Alkohol. Henri atmete aus. Das Schwitzen ließ nach.
Sollten die Leute doch denken, was sie wollten. Er war wahrscheinlich der reichste Mann hier im Saal. Man wusste es nicht genau. Mit irgendetwas hatten sie alle ihr Geld gemacht. Ihr Dollarvermögen. Und das war hier, in der deutschen Provinz, gleich doppelt so viel wert. Ob es immer mit rechten Dingen zugegangen war beim Vermögensaufbau oder ob die Vorfahren tatsächlich schon mit der »Mayflower« nach Amerika gekommen waren, wer wollte das überprüfen? Ihm fiel William King Thomas ein. Vor ein paar Jahren war er der Vize-Präsident im Anglo-Amerikanischen Club gewesen. Ein großzügiger Gastgeber mit einer eleganten Ehefrau. Die Thomas’ waren unermesslich reich, hieß es immer. Henri hatte gleich seine Zweifel gehabt. Dann platzte die Bombe! Wortwörtlich. Der feine Mr. King Thomas war ein gedungener Massenmörder. Hatte ein Schiff versenken wollen mit einem Fass Sprengstoff. Nur um die Versicherungsprämie zu kassieren, für seine Ladung, die in Wirklichkeit wertlos war. Das Fass explodierte schon im Hafen und brachte Dutzenden Menschen den Tod. Unzählige andere wurden verletzt. Der Gipfel war, dass sich der Mann anschließend das Leben nahm. So ein feiger Hund! Und Florry, dieses unbedarfte Ding, war gut befreundet mit der Ehefrau dieses Massenmörders! Wie lange war das jetzt her? Fünf Jahre? Oder sechs?
Henri starrte auf die hellgrüne Flüssigkeit in seinem Glas. Angeblich hatte die Ehefrau – wie hieß sie doch gleich? Cäcilie? Celia? Nein, Cecelia – nichts geahnt von den üblen Machenschaften ihres Mannes. Und trotzdem war sie nur wenige Wochen nach der abscheulichen Tat aus Dresden geflohen. Alle hatten den Kontakt zu ihr abgebrochen. Nur Florry nicht. Henri wusste, dass sie heimlich Briefe nach New York schickte. Angeblich an ihre Brüder. Aber eines der Dienstmädchen hatte ihm die Wahrheit erzählt. Henri stöhnte auf. Würde Florence denn nie erwachsen werden? Gut, sie war erst 15 Jahre alt gewesen, als sie sich vor zwölf Jahren kennengelernt hatten. Aber mittlerweile war sie Mutter zweier Kinder, die Ehefrau eines der reichsten Männer in der Stadt und eine »de Meli«. Hätte er doch nur auf seine Mutter gehört. Sie war gleich gegen diese Verbindung gewesen.
»Henri! Henri!« Atemlos plumpste Florence auf ihren Stuhl. »Der Kapellmeister hat mir versprochen, das Lied ›Oh, Dem Golden Slippers‹ zu spielen. Wir wollen singen!«
Henri seufzte. Sie war so hübsch! Diese Mischung aus Anmut, Fröhlichkeit und Schönheit. Florence redete weiter. Er sah, wie sich ihr Mund bewegte. Dieser Kirschenmund. Aber er hörte nicht, was sie sagte. Sah die flinken braunen Augen, das feine Gesicht. Immer in Bewegung. Sie lachte und warf den Kopf zurück. Ein grüner Schleier hatte sich über seinen Blick gelegt. Der Absinth machte ihn wehrlos. Aber er legte auch die Wahrheit offen. Ja, seine Flossie war von Anfang an die Schönste gewesen. Und unbekümmert wie ein Kind. So wie er nie war. Wie niemand war bei den de Melis. Erst recht, nachdem sein Vater aus dem schlichten »Melly« ein »de Meli« gemacht hatte – angeblich stammte die Familie von italienischen Adeligen ab. In Wirklichkeit kamen ihre Vorfahren aus der Schweiz. Tüchtige Uhrmacher. Doch das sollte niemand wissen. Offiziell waren sie seit ein paar Jahren Familie de Meli. Von denen lachte niemand mit entblößten Zähnen und sang hemmungslos mit, wenn die Kapelle das Lieblingslied anstimmte.
Henri nippte an seinem Glas. Der Keller war zuverlässig und diskret. Henri zahlte ein großzügiges Trinkgeld. Langsam verlor er den Überblick über die Menge des grünen Wundermittels, die er schon getrunken hatte. Angeblich wurde es als Medizin benutzt. Henri hatte vergessen, wogegen es half. Ihm half der Absinth ebenfalls. Er brachte ihm Ruhe. Und machte ihn gelassen. Und manchmal zeigte ihm der Alkohol auch, was er liebte. Diese Frau dort, in ihrem sahnegelben Kleid und den schimmernden Perlenohrringen. Wie sie dort stand – umringt von einem kleinen Pulk anderer Gäste, wie sie lachte und lauthals sang. Was für eine Frau! Seine Frau. Henri schluckte. Er strich sich durch den Bart und zündete sich eine Zigarre an. Seine Augen begannen zu tränen. Es war der Rauch. Es war der Rauch. Es war … der Anblick seiner Frau.
Florence war vergnügt. Endlich wieder unter Menschen! Und sie sang so gern. Im Chor der All-Saints-Kirche – das war das eine. Aber hier im Ballsaal von Webers Hotel zwischen all den eleganten Frauen, den charmanten Männern, der Musik. Sie fühlte sich großartig. Der Kapellmeister erwiderte ihren Blick mit einem Schmunzeln und wies seine Musiker an, ein weiteres »da capo!« zu spielen. Als sie die ersten Takte noch einmal hörte, warf sie Henri eine Kusshand zu. Er lächelte. Gott sei Dank, er war nicht mehr böse auf sie.
»Mein Darling, die Musik ist wundervoll. Ich muss singen!«
Henri nickte. Seine Augen waren rot. Er lächelte und tätschelte ihren Arm, als sie nach ihrer Zigarettenspitze griff. Florence küsste ihn auf seinen kahlen Kopf und eilte zurück zu den anderen, die immer noch vor dem Podest mit der Kapelle standen und zu den Takten der Musik schunkelten. Baron von Geyso hielt ihr galant eine Hand entgegen. Er zwinkerte ihr zu. Der Baron mochte sie. Manchmal konnte man denken, er mochte alle Frauen. Florence warf ihm einen tiefen Blick zu, dann sprang sie behände auf die Bühne neben den Kapellmeister und erhob ihre Zigarettenspitze.
»Jetzt unterstütze ich Sie!«, rief sie. »Das ist mein Taktstock!«
Die anderen lachten, während sich Florence mit dem Kapellmeister einen gespielten Wettstreit lieferte. Sogar der alte Smith und seine Frau wollten sich diesen Spaß nicht entgehen lassen und traten zu den Sängern. »Da capo! Aber etwas schneller!«, rief Florence und fuchtelte mit ihrer Zigarettenspitze in der Luft.
Nur die Witwe Clarkson hielt sich bedeckt. Argwöhnisch beobachtete sie das Treiben. Die junge Frau de Meli umringt von Männern und Frauen. Ihr Ehemann nur umringt von zu vielen leeren Gläsern. Sie schüttelte den Kopf. Das konnte nicht gut gehen. Sie sang mit Florence im Kirchenchor und kannte sie aus der Arbeit für den Wohltätigkeitsbasar im Advent. Eine Frau in ihrer Position muss doch irgendwann einmal erwachsen werden, dachte sie. Zwei Kinder, ein Ehemann, ein Name – und was für einer! Eine feine Adresse, dazu eine Schwiegermutter, die ihr mit Rat und Tat zur Seite stand. Witwe Clarkson dachte an Antoinette de Meli. Sie waren befreundet. Ob sie ihr von diesem Auftritt ihrer Schwiegertochter heute Abend berichten sollte? Ja, besser sie würde es von ihr erfahren als von irgendjemand anderem.
Denn glücklich war diese Ehe nicht. Das konnte jeder sehen. Der arme Henri. Er ließ sich gehen. Das konnte eine junge Frau auf die Dauer nicht aushalten. Witwe Clarkson überlegte. Vielleicht würde sie gegenüber Antoinette eine winzige Anmerkung machen über den vielen Alkohol. Dieser Absinth war das reinste Gift in ihren Augen. Warum musste Henri nur immer so viel trinken? Plötzlich fasste ihr jemand an die Schulter. Erschrocken sah die alte Dame auf. Sie sollte sich einreihen – eine Polonaise zog durch den Saal, angeführt von Florence de Meli. Witwe Clarkson schüttelte den Kopf und ließ die Tanzenden an sich vorüberziehen. Wie konnte Gott nur zwei so unterschiedliche Menschen zusammenführen? Sie seufzte. Morgen würde sie mit Antoinette sprechen.
3. Mutter und Sohn
Dresden, 20. Februar 1881
Die Türklinke wurde langsam nach unten gedrückt. Ein Spalt öffnete sich. Das Kind stand in der Tür und bewegte sich nicht. Es legte beide Hände zusammen und wartete im Halbdunkel. Die Vorhänge waren noch zugezogen. Es roch nach Bitterorangen, dem Parfüm seiner Mutter. Vorsichtig betrat der Junge das Schlafzimmer. Florence lag im Bett und schlief. Der Junge trat näher und streichelte ihre Hand.
»Mommy, bist du wach?« Seine Stimme war kaum zu hören.
Florence drehte sich zur Seite. »Oh, Henry, mein Liebling. Lass mich noch ein wenig schlafen. Es war so spät gestern.«
Der Junge schwieg, rührte sich aber nicht vom Fleck.
»Wie spät ist es überhaupt?« Langsam richtete sie sich auf und rieb sich die Augen.
»Mommy,