Der Müllermeister wusste zunächst nicht recht, welch einen Vogel er sich da eingefangen hatte. War das ein Windbeutel, dem bald die Luft ausging? Oder würde er durchhalten? Der Junge arbeitete von früh bis spät, manchmal mit einer gewissen Hast und wirkte oft bedrückt. Gerhard Hisje nahm ihn nach einiger Zeit beiseite. »Sag, Cornelius, dir liegt doch etwas auf der Seele?«
Der Junge zuckte regelrecht zusammen und nickte schließlich. »Ich kann das Lehrgeld nicht bezahlen. Meine Eltern sind zu arm.«
»So, und das sagst du mir jetzt?«, antwortete der Müller recht bedächtig.
»Bitte, Meister! Schickt mich nicht weg! Das ist meine einzige Möglichkeit, einmal zu einem besseren Leben zu kommen! Ich werde bis zum Umfallen arbeiten!«
»Das geht schon gar nicht!«
Cornelius schaute ihn entsetzt an. Gerhard Hisje bemerkte die erschrockene Reaktion des Jungen.
»Nee, so meine ich das nicht. Ich mach dir einen Vorschlag. Du nimmst mal ’n büschen Fahrt aus deiner Arbeit, arbeitest mit Bedacht und Sorgfalt und alles Weitere wird sich finden!«
Cornelius schaute ihn nur fragend an.
Der Meister merkte, dass er den Jungen auf einen anderen Kurs bringen und ihm die Sorgen nehmen musste. »Setz dich mal hin!« Er deutete auf einen niedrigen Bretterstapel und nahm ihm gegenüber Platz. »Du musst ’n büschen ruhiger werden. Denk vorher zweimal nach und mach mit Bedacht voran. Da schaffst du genauso viel, sollst mal sehn. Sonst fällst du mir wirklich noch um. Und davon hab ich auch nichts!«
Cornelius sah den Meister überrascht an, lächelte und nickte. Gleich darauf wurde er wieder ernst. »Aber das Lehrgeld, Kost und Logis?«
»Ach, Junge. Das ist ganz einfach! Solange du mich weniger kostest, als du einbringst, passt das schon!«
Cornelius’ Gesicht war ein einziges Fragezeichen.
»Du Dösbaddel!« Gerhard Hisje lachte. »Bist doch sonst nicht so schwer von Begriff! Du machst wieder ein fröhliches Gesicht, arbeitest ordentlich und in Ruhe – und ich verlange kein Lehrgeld!«
»Meister!« Der Junge schrie es fast, überglücklich.
»Unter einer Bedingung. Davon erzählst du niemandem etwas. Und wenn deine Eltern fragen sollten, sagst du ihnen einfach, es sei alles geregelt. Und nun ran an die Arbeit! Wir haben schon viel zu lange geredet!«
Cornelius lernte dadurch nicht nur, ruhiger zu arbeiten, sondern noch etwas anderes. Der Pastor hatte es Gottvertrauen genannt.
Bald begann der große Krieg und die Jüngeren unter den Gesellen mussten einer nach dem anderen ins Feld ziehen, wie man damals sagte. Cornelius Holtkamp lernte drei Jahre und machte seine Prüfung als Müllergeselle. Die Kenntnisse in diesem Handwerk hatte er mehr nebenbei erworben, denn sein ganzes Interesse galt der modernen Elektrotechnik. Eigentlich hätte er 1916 ebenfalls zum Militär einrücken müssen. Da jedoch sein älterer Bruder bereits bei einer in Hage stationierten Luftschifferabteilung diente, blieb Cornelius davon verschont. Er arbeitete weitere Jahre bei seinem Lehrmeister, bevor er in einigen der zahlreicher werdenden Elektrounternehmen zusätzliche Erfahrungen sammelte. Eine Gesellenprüfung im Bereich dieser neuen Technik legte Cornelius jedoch niemals ab.
Im Jahre 1934 stand in Leer ein kleiner ehemaliger Bäckereibetrieb zum Verkauf. Da die Ersparnisse bei Weitem nicht reichten, ging er zur Bank, um eine Hypothek aufzunehmen. Als man dort zögerte und nach Sicherheiten fragte, legte Cornelius seine Zeugnisse auf den Tisch. Oben drauf das Arbeitszeugnis von Gerhard Hisje.
Der Bankmitarbeiter machte große Augen: »Sie haben bei diesem sagenhaften Elektromüller gelernt? Ja, das ist natürlich etwas anderes! Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?«
Wenige Wochen später eröffnete Cornelius Holtkamp sein Elektro- und Installationsgeschäft in der ehemaligen Bäckerei, die er zuvor weitgehend eigenhändig umgebaut hatte.
Eine Hürde hatte er allerdings noch nehmen müssen. Bedingung für die Eröffnung seines Unternehmens war die Mitgliedschaft in der NSDAP. Cornelius, der sich nie einen Deut um die Politik geschert hatte, wurde Parteimitglied.
Jahre später sollte er damit ein Problem recht eigener, oder besser gesagt, sehr eigenwilliger Art haben.
1 Gesprochen: Hische.
2 – Fräulein Marlene Degenhardt
Geboren wurde Marlene als einziges Kind des Studienrates Paul Degenhardt und seiner Frau Helene in einem Vorort Hannovers im Jahre 1913. Über ihre Kindheit und frühe Jugend gibt es nichts Besonderes zu berichten. Dies änderte sich jedoch schlagartig in ihrem sechzehnten Lebensjahr. Sie lernte einen jungen Mann kennen. Man kam sich näher, die Eltern ahnten nichts davon. Die Natur nahm ihren Lauf und Marlene wurde schwanger. Als sich die verstörte junge Dame ihrer Mutter anvertraute, war sie schon im vierten Monat. Normalerweise hätte man sich arrangieren können, ohne dass es zu einem gesellschaftlichen Skandal gekommen wäre. Hier lagen die Dinge jedoch ein wenig anders. Ein vertrauliches Gespräch zwischen Paul Degenhardt und dem Vater des möglichen Schwiegersohnes in spe ergab zweierlei. Zum Ersten war der junge Mann nur zwei Jahre älter als Marlene, konnte ihr also noch keine gesicherte Zukunft bieten, zum Zweiten hatte schon dessen Nachname offenbart, dass dieser mosaischen Glaubens war. Ein Jude als Schwiegersohn war für die Degenhardts ebenso wenig vorstellbar wie für die Familie Salomon die Eheschließung ihres Sohnes mit einer Gojah, einer Nichtjüdin.
Nun war guter Rat, besser gesagt ein Ausweg, im wahrsten Sinne des Wortes teuer. Bei einem kurz darauf stattfindenden Gespräch der Elternpaare – die beiden jungen Leute durften nicht daran teilnehmen – stand für einen Moment der Gedanke an den Gang zur Engelmacherin im Raum. Für einen sehr kurzen Moment, denn er wurde im nächsten Augenblick von beiden Frauen entrüstet verworfen. Von den Männern wollte später keiner dieses Wort in den Mund genommen haben.
Vater Salomon präsentierte daraufhin eine Lösung, die er sich schon zuvor sorgfältig überlegt zu haben schien. Da er zusagte, die finanzielle Seite dieses Planes zu übernehmen, ließ sich dieser flugs in die Tat umsetzen. Den Salomons fiel das nicht schwer, besaßen sie doch zwei große florierende Fertigungsateliers für feinste Damen- und Herrenkleidung.
Marlene verließ das Lyzeum nach Beendigung der Untersekunda und blieb in den folgenden Monaten daheim. Ein Vierteljahr später reiste sie zusammen mit ihrer Mutter in die Tschechei, ins schöne Marienbad. Ein verschwiegenes Privatsanatorium wurde für die nächsten beiden Monate ihr Zuhause. Dort brachte Marlene, mittlerweile siebzehn Jahre alt, ein kleines Mädchen zur Welt.
Nun kam der eigentliche und entscheidende Punkt. Vater Salomon, dem nichts Menschliches im Leben fremd zu sein schien, hatte beizeiten die entsprechenden Stellhebel betätigt. Der Inhaber des Privatsanatoriums, ein angesehener Mediziner, kannte natürlich die Honoratioren der Stadt, deren Verbindungen unter anderem in das zuständige Standesamt reichten.
Drei Wochen später verließen Helene Degenhardt, zu diesem Zeitpunkt siebenunddreißig Jahre jung, ihre Tochter Marlene und deren gerade geborenes Schwesterchen Karin die Stadt Marienbad. Wer es in der Heimat nicht glauben wollte, durfte die vom Marienbader Standesamt ausgestellte Geburtsurkunde in Augenschein nehmen, die von den deutschen Behörden problemlos anerkannt wurde. Zufrieden waren alle, auch die beteiligten tschechischen Beamten. Vater Salomon war ein vorausschauender Mann und schrieb ein zweites Kapitel dieser eigenartigen Geschichte.
Wenig später wurde Paul Degenhardt aufgrund seiner hervorragenden pädagogischen Fähigkeiten außer der Reihe zum Oberstudienrat befördert. Die entsprechende Stelle befand sich allerdings am Ubbo-Emmius-Gymnasium in Leer in Ostfriesland. Marlene Degenhardt und David Salomon sollten sich nicht wiedersehen, so lautete der Plan.
Drittes und letztes Kapitel der seltsamen Geschichte war die Versorgung von Marlene Degenhardt. Vater Salomon kaufte in Leer ein Haus auf ihren Namen. Dieses kleine Gebäude war vor wenigen Jahren erbaut worden, dem neuesten Stil entsprechend mit einem quadratischen Grundriss,