»Es müsste irgendetwas mit größerer Verantwortung sein … aber was?« Lilli schaute ihre Großmutter ratlos an.
Melitta Feenders überlegte einen Moment. Ein Lächeln ging über ihr Gesicht. »Ich habe eine Idee!«
»Und welche?«
»Warte mal ab, ich muss erst mit Oltmanns sprechen, ob das geht.«
»Was haben unsere Nachbarn damit zu tun?«
»Das verrate ich dir, wenn es geklappt hat.« Melitta Feenders begann zu lachen. »Dein Bruder wird Augen machen!«
Georg staunte nicht schlecht über den Vorschlag seiner Großmutter. Die alte Dame war klug genug, ihren Enkel nicht vor vollendete Tatsachen zu stellen. Den Hintergrund ihrer Idee verriet sie ihm wohlweislich nicht.
»Und ab wann soll das sein?«
»Wenn du willst, kannst du gleich rübergehen.«
»Mensch, Oma, das ist ’ne tolle Idee, danke!« Weg war er.
Ein Weilchen später kam er zurück – mit einer Schubkarre. Und darin lag auf einer Decke ein kleines Hundekind, ein braun-grau gefleckter Jagdterrierwelpe.
»Oh, ist der niedlich!« Lilli war begeistert.
»Das ist kein der, sondern eine die!« Georg hob das kleine Tier vorsichtig hoch und nahm es auf den Arm. »Ich werde sie Antje nennen.«
»Und wer kümmert sich darum?« Lilli musste innerlich lachen, als sie die Idee ihrer Großmutter erkannte.
»Ich natürlich«, sagte Georg im Brustton der Überzeugung. »Frau Oltmanns hat mir genau erklärt, wie ich das machen muss. Swantje, die Hundemutter, hat vier Junge bekommen. Sie ist bei der Geburt leider gestorben. Daher wollen sie einen Welpen behalten und drei weggeben. Antje ist jetzt mein Hund!«
»Hoffentlich bringst du ihr nicht lauter Unsinn bei!«
»Lilli, wie kommst du denn da drauf?«, antwortete Georg empört. Dann musste er selber lachen. »Nee, nee, ich werde mir schon Mühe geben. Antje ist so klein, die kriegt noch die Flasche. Und wenn ich in der Schule bin, übernimmt Oma das, hat sie mir versprochen!«
Ob Georg wirklich weniger Unfug machte, ist nicht überliefert. Größere Zwischenfälle waren jedoch nicht mehr zu vermelden. Es gab nun zwei, die regelrecht unzertrennlich wurden. Nur als Antje eines Morgens in Georgs Bett lag, da protestierte seine Mutter energisch. Also wurde ein Hundekorb neben das Bett gestellt. Wenn Georg morgens zur Schule fuhr, heulte Antje regelmäßig. Wenn er mittags zurückkam, brachte sie sich bald um vor Freude. Für den Rest des Tages wich sie meist nicht mehr von seiner Seite.
*
Schon der »Anschluss« Österreichs und die Besetzung der Tschechoslowakei geschahen unter anderem, um sich der dortigen Industrie und der Bodenschätze zu bemächtigen. Sie waren unabdingbare Voraussetzungen für die weitere deutsche Aufrüstung.
Am 9. April 1940 um 5.15 Uhr morgens begann das Unternehmen »Weserübung«. Die Besetzung Dänemarks erfolgte aus militärstrategischen Gründen. Hauptziel war jedoch Norwegen mit seinen eisfreien Häfen wie Narvik, dem Endpunkt der von Schweden herführenden Erzbergbahn. Während der dänische König Christian X. seinen unvorbereiteten Truppen jegliche Gegenwehr untersagte, leisteten die Norweger erheblichen Widerstand. In mehreren Häfen des Landes kam es außerdem zu schweren Kämpfen mit den englischen und französischen Expeditionskorps. Vor allem die deutsche Kriegsmarine erlitt hohe Verluste.
10 – Marijke Dijkstra
Nieuweschans, Nederland, zaterdag, 4 mei 1940
Zij mocht de splinternieuwe fiets van haar ouders lenen.8 Es war eine geradezu unerhörte Neuheit, die dieses Rad darstellte. Es besaß nicht nur einen Freilauf, der es gestattete, auch einmal die Füße stillzuhalten, während das Rad dahinrollte – nein, es wies noch eine weitere Besonderheit auf. Ihre Eltern hatten lange gespart, überlegt und gerechnet. Da ihr Vater seine sichere Arbeit bei »de Nederlandse spoorwegen«, den Niederländischen Eisenbahnen hatte, konnten sich ihre Eltern dazu entschließen, dieses sündhaft teure Rad zu kaufen. Es war sozusagen das Familienrad. Sie hatte auch etwas dazu beigesteuert. Schließlich arbeitete sie seit einiger Zeit im Dorfladen der alten Frau Wijnands. Und sie, Marijke, durfte das erste Mal eine längere Fahrt mit dem neuen Rad unternehmen.
Das ganz Besondere an diesem Rad war die Gangschaltung. Die kam aus England von der berühmten Firma Sturmey-Archer. Drei Gänge, einfach über einen Hebel am Lenker zu schalten. Das Fahren mit diesem Wunderwerk war einfach herrlich, auch bei Gegenwind. Aus Groningen hatte ihr Vater das Prachtstück geholt. Die ganze Strecke war er damit hergefahren.
»Let goed op jezelf!«, hatte ihr Vater noch gesagt. Und Marijke fragte sich unwillkürlich, ob seine Sorge nun mehr dem Rad oder seiner Tochter galt. Sie war, wie man so schön sagte, een heel mooi meisje9, dem die Männer mittlerweile gerne nachschauten. Ihre Eltern erfüllte dies naturgemäß mit Freude und Sorge zugleich.
Marijke kümmerte das wenig. Sie hatte ein sonniges Gemüt und eine freundliche Art, und wenn ihr einer zu nahe kam, konnte sie ziemlich resolut werden. Bislang hatte das jeder respektiert und so machte sie sich keine allzu großen Gedanken. Für einen Freund, Verehrer, Kavalier oder wie auch immer man das nennen wollte, fühlte sie sich einfach noch zu jung.
Marijke rollte mit dem schönen neuen fiets die Straße entlang, die nach Bunde führte. Die Grenze zum Deutschen Reich beschrieb hier eine Ausbuchtung, einen spitzen Zipfel, der in das Nachbarland hineinragte. Früher hatte an dieser Stelle vielleicht einmal jemand vom Zoll oder ein Polizist gestanden, meistens jedoch überhaupt niemand. Nun befand sich am Ortsende der Posten van de »Koninklijke Landmacht«10, ein kleines Wachlokal, eine Holzbaracke und eine Barriere von Sandsäcken in der Form eines Hufeisens. Daraus lugte ein Maschinengewehr hervor. Die beiden wachhabenden Soldaten winkten ihr freundlich zu. Im November 1938, nach den fürchterlichen Anschlägen auf die Synagogen, als immer mehr Juden in die Niederlande geflohen waren, hatte man offiziell nur noch wenige Flüchtende aufgenommen und ansonsten die Grenze geschlossen, um den mächtigen Nachbarn nicht zu provozieren. Häufig schauten jedoch niederländische Grenzbeamte und Soldaten in die andere Richtung, wenn Flüchtlinge die Grenze passieren wollten. Herzloses Verhalten kam für die meisten nicht infrage. Auch dieser Militärposten war seit dem schrecklichen September, dem Kriegsausbruch im letzten Jahr, noch einmal verstärkt worden. Auf der anderen Seite der Grenze bei den Deutschen war es ähnlich. Es herrschte Krieg zwischen Deutschland und den Alliierten, England und Frankreich. Und keiner wusste, ob und wann der Wahnsinn im Westen richtig losgehen würde. Respektierten die verfeindeten Mächte die niederländische Neutralität, wie dies im »wereldoorlog«, dem großen Krieg, der Fall gewesen war?
Vom deutschen Posten wurde Marijke allerdings kontrolliert, ihr »persoonlijk document« sorgfältig studiert.
»Gute Fahrt, Fräulein Dijkstra!«, wünschte der Wachhabende und trat aus dem Weg. Höflich waren sie, die deutschen Wachposten. Meist trugen sie keine Helme, sondern nur diese komischen Mützen. Das ließ sie ein wenig menschlicher erscheinen.
Normalerweise hätte Marijke die Emsfähre bei Leerort genommen. Der Bau der neuen Brücke, vor drei Jahren begonnen, war noch nicht fertig. An der Dampffähre gab es oft längere Wartezeiten. So hatte sie beschlossen, über Bunde und Weener zu fahren und den Bohlenweg an der großen Eisenbahnbrücke über die Ems zu nehmen, obwohl es ein Umweg war.
Dort an der Emsbrücke stand zwar ein Posten, der sie sehr höflich bat, einen Blick in ihre Fahrradtaschen werfen zu dürfen, aber das war es auch schon.
»Obacht!«, hatte der Soldat noch gesagt. »Die Bohlen sind glitschig, schieben Sie Ihr Rad lieber!«
Nun ging es den alten Klosterweg entlang bis zur nächsten Eisenbahnbrücke.