Zint unterrichtete die älteren Schüler auch in Latein, die Unterstufenschüler kamen zunächst nur in den Genuss des zur Eröffnung jeder Sportstunde zitierten Satzes des römischen Dichters Juvenal, mens sana in corpore sano. »Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper, schreibt euch das hinter die ungewaschenen Ohren, ihr kleinen Schwachmaten!« Zint wohnte ein Stück von Hannover entfernt, in Wunstorf. Nurminski erzählte den anderen, dass in Wunstorf die größte Irrenanstalt Deutschlands sei, was sie alle sehr beeindruckte. Hinter vorgehaltener Hand machten sie bösartige Kommentare, die sich auf den aus dem Wohnort abzuleitenden Geisteszustand des Sportlehrers bezogen.
Im Kunstunterricht malten sie das erste Schuljahr über nur bunte Bilder, bei denen sie die Abgrenzungen zwischen den verschiedenen Farben mit Wasser verlaufen lassen sollten, was Appaz recht gut gelang. In der sechsten Klasse klebten sie dann Herbstblätter, die sie nachmittags im nahen Stadtwald sammelten, zu braungelb-roten Collagen. Zum Schutz sollten sie die Collagen mit durchsichtiger Folie abdecken und diese Folie dann auf der Rückseite mit Tesafilm befestigen. Schon nach kurzer Zeit fingen die Blätter unter der Folie an zu schwitzen und bildeten bald interessante Schimmelformationen, woraufhin Appaz’ Mutter die gesammelten Kunstwerke ihres Sohnes kurzerhand in den Müll entsorgte.
Der Kunstlehrer hieß Schleicher und war auffallend klein, zumindest Buchmann überragte ihn schon um gut einen halben Kopf. Schleicher war deutlich jünger als die anderen Lehrer, vielleicht gerade mal dreißig. Er hatte einen sauber ausrasierten Kinnbart und trug, dem Image des Künstlers entsprechend, mit Vorliebe großkarierte Hemden und manchmal sogar eine Jeans, wenn auch mit Bügelfalte. Wenn Schleicher den Zeichensaal betrat, brachte er grundsätzlich eine Wolke von Zigarettenqualm und stechendem Schweißgeruch mit herein.
Trotz seiner Jugendlichkeit und der legeren Kleidung beherrschte er jedoch den am Gottfried-Wilhelm-Gymnasium üblichen Katalog an Strafmaßnahmen. Seine ganz persönliche Ergänzung bestand darin, unaufmerksame Schüler an die Tafel zu holen, sie mit dem Kopf parallel zu der Ablageschiene für die Kreide auszurichten und sie dann mit einem Stoß gegen die Kante zu rammen. Ihrer Größe entsprechend knallten die meisten von ihnen genau mit dem Ohr auf die Kante.
Appaz war froh, als Schleicher ihn in die »freiwillige Arbeitsgemeinschaft für Flugmodellbau« wählte, bei der sie einmal in der Woche am Nachmittag zuvor mit Hilfe einer Schablone aufgezeichnete Flugzeugteile aus Balsaholz ausschnitten und zu sogenannten »Gleitern« zusammenklebten, die meist spätestens beim »Luftkampf« im Werkraum wieder zu Bruch gingen. Aber wer in Schleichers freiwilliger AG war, gehörte zu seinen Lieblingsschülern und lief damit deutlich weniger Risiko, sein Ohr gegen die Tafelkante geknallt zu bekommen. Auch Kerschkamp war in der AG, genauso wie Klaus-Dieter, der von nun an nicht mehr nur die Haut von seinen Fingerkuppen kaute, sondern auch dicke Lagen von Uhu-Hart.
Appaz’ Mutter war stolz auf Appaz’ neues Hobby, sie selber war nach dem Krieg mehrmals auf der Wasserkuppe mit einem Segelflugzeug mitgeflogen und beschrieb Appaz begeistert das unglaubliche Gefühl, über den Wolken dahin zu gleiten. Unverzüglich versuchten sich Appaz und Kerschkamp denn auch zu Hause an einem Segelflugmodell, bei dem die Balsaholzgerippe der Tragflächen mit dünnem Papier bezogen und mit einem Speziallack behandelt wurden, wodurch sich eine zum Zerreißen straff gespannte Fläche bildete. Das Modell hieß laut Aufschrift auf dem Bausatz »Sonny« und stürzte bei einem ersten Testflug trudelnd in ein Dornengestrüpp, das die Bespannung unwiderruflich zerfetzte.
Aber zum ersten Mal schien auch Kerschkamps Vater irgendeinen Sinn in dem zu sehen, was sein Sohn in der Schule trieb. Das nächste Modell bauten Appaz und Kerschkamp dann unter seiner Anleitung - und tatsächlich war es deutlich flugtauglicher und ließ die Zuschauer auf der Wiese spontan Beifall klatschen, als es sich in eleganten Kurven mit dem Wind immer höher schraubte.
Noch stolzer aber war Appaz’ Mutter, als er aus dem Deutschunterricht eine Eins mit nach Hause brachte, für eine Kurzgeschichte, die sie bei Dr. Strotzeck geschrieben hatten. Auch Dr. Strotzeck war Oberstudienrat, für Deutsch und Religion. Er war so alt, dass er schon im Ersten Weltkrieg Soldat gewesen war, im Religionsunterricht aber erzählte er vor allem aus dem Zweiten Weltkrieg, den er ebenfalls mitgemacht hatte. Er ließ sie gerne teilhaben an der einen oder anderen Erfahrung »mit dem Russen«, der nach der Besetzung von Berlin zum ersten Mal ein Wasserklosett sah und keine Ahnung hatte, wofür es gedacht war. Weshalb er dann seine Kartoffeln in der Kloschüssel wusch und schließlich entgeistert feststellte, dass nach Betätigen der Spülung die Kartoffeln auf Nimmerwiedersehen verschwunden waren.
Über diese Geschichte konnten sie alle herzlich lachen, es war tatsächlich unglaublich, wie dumm der Russe war. Und nicht nur das, er war auch ein kleines Dreckschwein, »um seine Notdurft zu verrichten, benutzte er einfach den Keller«, wie Dr. Strotzeck zu berichten wusste.
Eigentlich war der Unterricht bei Dr. Strotzeck gar nicht so schlimm. Wenn sie ihn dazu kriegten, die immer gleichen Geschichten vom Krieg zu erzählen, hatten sie für die folgenden fünfundvierzig Minuten meist nichts zu befürchten. Sie hatten auch gehört, dass die älteren Schüler den Oberstudienrat fast liebevoll als »Opa Strotzeck« bezeichneten, trauten sich aber nur hinter vorgehaltener Hand, diesen Spitznamen selber zu benutzen. Denn als Andenken an den Krieg hatte Dr. Strotzeck nach einem Kopfschuss eine »Silberplatte im Gehirn« mitgebracht und neigte in größeren Abständen unvermittelt zu cholerischen Ausfällen, bei denen er wahllos einen vermeintlichen Störenfried aus der Reihe holte, mit sich überschlagender Stimme brüllte: »Du hast wohl Kopfschmerzen, du Schlingel!« und den wimmernden Schüler mit verdrehtem Ohr hinter sich her zum Schulleiter zerrte.
Vor dem Schulleiter zitterten sie alle, allein schon das Schild an seiner Tür, Oberstudiendirektor Dr. Siegfried, machte ohne jeden Zweifel klar, dass er weit über allen Lehrern stand. Und so wagte niemand, auch nur den Mund aufzumachen, wenn Dr. Siegfried sie barsch zum Säubern des Schulhofs verdonnerte oder, schlimmer noch, sie nach Schulschluss für eine zusätzliche Stunde zur Arbeit im Schulgarten abkommandierte, wo sie dann Unkraut jäten, die Wege harken und den modrigen Teich von Schlingpflanzen befreien mussten, während die anderen längst in die nachmittägliche Freiheit entlassen waren.
Aber von Opa Strotzecks gelegentlichen Wutanfällen abgesehen, mochte Appaz die Deutschstunden. Es waren vor allem die Geschichten, die sie bei ihm lasen und die Appaz ausnahmslos gut fand. Wolf-Dietrich Schnurres »Veitel und seine Gäste« oder Georg Brittings »Brudermord im Altwasser« eröffneten ihm eine neue Welt, die weit über seine bisherigen Lieblingslektüren »Fury« und »RinTinTin« hinausging. Dr. Strotzeck ermutigte sie auch zu eigenen Schreibversuchen, bei denen sie neue stilistische Mittel ausprobieren sollten. Und so entstand Appaz’ Kurzgeschichte »Der Sprung vom Zehner«, in der er seine Erfahrungen an einem von vielen im Freibad am Mittellandkanal verbrachten Sommernachmittagen verarbeitete, als er mit Kerschkamp und Klaus-Dieter voll ehrfürchtiger Bewunderung beobachtet hatte, wie Buchmann tatsächlich vom Zehner gesprungen war und gleich nach ihm Nurminski und sogar Nölle die Heldentat wiederholt hatten. Appaz traute sich kaum aufs Dreimeterbrett, Klaus-Dieter hielt sich schon beim Sprung vom Beckenrand, mit den Füßen voran, die Nase zu, Kerschkamp kletterte grundsätzlich nur über die Leiter ins Wasser. Und setzte auch seine getönte Brille nicht ab.
»Versucht, mit wenigen und einfachen Worten eine Geschichte aus eurem Alltag zu erzählen«, hatte Dr. Strotzeck sie aufgefordert, und nachdem Appaz erst mal einen Anfang gefunden hatte, reihte er in kurzer Zeit Satz an Satz und hatte Spaß daran zu sehen, wie seine Geschichte sich fast von selbst entwickelte. Aber dann war er doch unsicher, ob man das wirklich so schreiben konnte, wie er es getan hatte. Er las den Text seiner Mutter vor, während sie in der Küche das Abendessen vorbereitete.
»Gut«, sagte seine Mutter nur, und am folgenden Tag lieferte Appaz seine Geschichte bei Dr. Strotzeck ab, obwohl Klaus-Dieter ihm nach einem flüchtigen Blick auf die ersten Zeilen geraten hatte, sie bloß niemand zu zeigen, und schon gar nicht dem Deutschlehrer!
»Bist du doof?«, hatte Klaus-Dieter gesagt. »Das ist doch keine Geschichte! Was soll das überhaupt?«
Klaus-Dieter hatte eine Geschichte über einen Besuch bei seinen Verwandten