Er erwacht.
Ich erwache.
Der Fluss fließt träge und langsam mitten durchs Schlafzimmer, das mir auch im dritten Winter hier in Maine manchmal fremd ist. Wie klein es ist, wie behaglich. Haben die Hunde der Frauen in den Booten angeschlagen, weil sie mich am Ufer des Flusses bemerkten? Katze Smilla liegt neben mir und schläft. Ich besitze seit über dreißig Jahren keine Armbanduhr; als ich nach dem Wecker mit den lindgrün phosphoreszierenden Ziffern auf dem Nachttischchen greifen will, verstehe ich, weshalb ich erwacht bin: Es ist still, beruhigend still. Der Wind hat sich endlich gelegt. 4 Uhr 23. Ist der Blizzard vorüber? Der Schneesturm hat dreiundzwanzig Stunden angedauert. Angekündigt hatte sich der Wetterumschwung durch ein Seufzen des Windes, das zum Stöhnen und Sausen wurde und sich schließlich zum Brandungsdonnern steigerte. Fichten, Kiefern und Tannen nickten, Birken wankten; Stämme krachten im strengen Frost wie Gewehrschüsse. Die Temperatur war innert Minuten von – 6 auf – 14 gefallen. Nun ist der Blizzard also vorbei. Es ist still.
Im Schutz der Nacht klingt das Meer näher, gewaltiger. Dunkelheit ordnet die Welt neu, macht die Stille umfassender. In manchen Winternächten ist es in Maine so still, als wäre alles vorbei, alles ausgestanden. Es gibt die Natur, aber nicht den Menschen, so groß ist die Stille, in der sich Hirsche, Schneehasen, Rehe und andere scheue Tiere zeigen, die uns meiden. Diese Stille anzunehmen, in der man Dinge denkt, die einem sonst nicht einfallen wollen und in der jeder Laut an Bedeutung gewinnt, ist eine Herausforderung: Das Bellen eines Hundes wird zum Hilferuf, das Rauschen des Atlantiks zur Begrüßungsmelodie, der Schrei eines Vogels zur Warnung. In den ersten Monaten auf der Insel verdrehte die Dunkelheit die Richtung der Geräusche, ich verlor die Orientierung. Töne trieben losgelöst von ihrer Quelle durch die Nacht und narrten mich, den Neuankömmling. An diese Verdrehung der Ordnung habe ich mich gewöhnt, sie täuscht mich nicht länger; ich verstehe, wie ein Geräusch übers Wasser ans Ufer getragen wird, wie die tiefe Kammer des Waldes es schluckt und abtötet und wie die Felswände des aufgelassenen Steinbruchs es als Arena mit ausgeklügelter Akustik hin- und herwerfen und nach einer Weile als Echo zurückgeben.
Lärm ist toxisch für uns Menschen, wir können ihn nicht ignorieren, unser Körper ist beschaffen, darauf zu reagieren: Schallwellen versetzen die drei winzigen Gehörknöchelchen in unserem Mittelohr mit den sprechenden Namen Hammer, Amboss und Steigbügel in Schwingungen, die als elektrische Impulse ins Hörzentrum unseres Gehirns schießen. Diese Attacke wehrt unser Körper ab, auch im Schlaf, indem er Stresshormone ausschüttet, was den Blutdruck nach oben treibt und das Risiko von Herz- und Gefäßerkrankungen erhöht. Wie Neurologen mithilfe des Kernspintomographen herausfanden, kommt die Aktivität der Großhirnrinde, in der sich das Hörzentrum befindet, in Stillephasen nahezu zum Erliegen, wohingegen tiefer liegende Hirnregionen aktiviert werden. Regionen, zu denen Menschen, die ein lärmerfülltes Leben führen, kaum Zugang erhalten, Regionen, die offenbar einen tieferen Grad des Denkens ermöglichen.
Der Vikar, der Religionskunde unterrichtete, die ich als katholischer Junge besuchen musste, las aus dem ersten Buch der Könige und erklärte uns, wie Gott sich Elia zeigte, indem er erst einen Orkan aufziehen ließ, danach ein Erdbeben herbeiführte und schließlich eine Feuersbrunst entfachte. Gott aber sei nichts von alledem, flüsterte der Vikar, ein Männlein mit Fistelstimme, Gott war weder Orkan noch Erdbeben, noch Feuersbrunst, nein, Gott kam danach, als ein »stilles, ein sanftes Sausen«. »Heißt das«, fragte ich entgeistert, »Gott ist die Stille?« »Genau das heißt es!« Damit hatte er mich auf seiner Seite, der Vikar.
Thomas Edison war taub, als er den Phonographen erfand, den Vorgänger des Plattenspielers. Um die Musik oder vielmehr die Vibrationen der Musik hören, nein, spüren zu können, biss Edison ins Holz seines Apparates. Er hörte mit dem Kiefer.
Ich trete ans Fenster, das nach Osten in unseren Garten hinausgeht, aber da ich tagsüber Kontaktlinsen trage, kann ich nicht erkennen, wie viel Schnee gefallen ist. Das Thermometer, das ich vor diesem Fenster angeschraubt habe, zeigt – 17 Grad an. Gestalt und Topographie unseres Gartens sind verändert: Zwei hohe Schneedünen schieben sich von verschiedenen Richtungen auf das Gelände; für meine kurzsichtigen Augen hat die Stelle, an der die Kammlinien aufeinandertreffen, die Form der Sichel, mit der Onkel Leopold das Gras um das Geviert Brennnesseln schnitt, in dem sein Birnbaum stand. Von den Staketen des Holzzaunes sind nur die Spitzen zu erkennen, dunkle Punkte, die über den Schnee laufen und das Gelände trennen. Später, wenn ich die Kontaktlinsen eingesetzt habe, werde ich sehen, dass der Schnee über einen Meter hoch liegt; die Veranda ist bis unter das mit Brettern verschalte, hüfthohe Geländer mit Schnee gefüllt, die kurze Holztreppe in den Garten nicht länger zu erkennen. Über die Veranda werde ich das Cottage nicht verlassen können. Die Erinnerung, in meiner Kindheit seien in Österreich Straßen und Wege von meterhohen Schneewänden gesäumt gewesen, habe ich die letzten Jahre als kindliche Phantasie abgetan; nach diesem Blizzard weiß ich es besser. Die Schneepflüge, welche die Straßen in der Nacht räumten, ohne dass ich es bemerkte, haben hohe Schneewälle zusammengeschoben und mich buchstäblich eingemauert. Ich werde mich freischaufeln müssen.
Das Meer hat die Farbe von nassem Zement, auch das werde ich erst mit den Kontaktlinsen erkennen. Jetzt stehe ich kurzsichtig am Fenster, als halte ich Wache, unsicher auf den Beinen, weil ich den Transatlantikflug wie üblich nicht aus den Knochen bringe, und lausche dem Klatschen schwerer lederner Schwingen, dem unmissverständlichen Geräusch der Einsamkeit, das mir schon lange keine Angst mehr macht. Der Wunsch, allein zu sein, kann genetisch veranlagt sein und ist, wie Biologen herausfanden, messbar: Ist der Oxytocinanteil im Hormonspiegel tief, der von Vasopressin dagegen hoch, kann dies den Wunsch nach menschlicher Zuwendung unterdrücken. Die Dachbalken knarzen in der Kälte, die Innenseite der Fensterscheibe ist mit einer Eisschicht bedeckt, die unter der Berührung meiner Finger knistert. Im Elternhaus meiner Mutter Romana, in dem in meiner Kindheit ihre Schwester Fanny und deren zweiter Mann Leopold lebten, der erste war in Russland gefallen, blühten in den Winterferien Eisblumen auf der Scheibe unseres Schlafzimmerfensters, fragile Gebilde, die meine Schwestern Sonja und Monika und ich mit den Fingernägeln umkratzten.
In meinem Alter löst nahezu alles, was ich sehe, höre, rieche, was ich erlebe, eine Erinnerung aus. Ich habe es aufgegeben, mich dagegen zu wehren. Was soll es ändern oder gar helfen, die Gegenwart nicht mit der Vergangenheit abzugleichen und beides gegeneinander abzuwägen?
Und die Zukunft?
An die Zukunft denke ich nicht mehr.
Ich habe sogar aufgehört, mich deswegen zu wundern.
Das Reich der Wehmut, die Vergangenheit, ist mir wichtiger denn der Ort der Sehnsucht, die Zukunft.
Die Uhr über dem Herd zeigt 8 Uhr 40, das Thermometer vor dem Fenster über der Spüle – 13 Grad. Das blaue Licht der Dämmerung verfremdet Distanzen, macht die Welt klein. Katze Smilla sitzt auf dem Tisch und frisst die Reste meines Frühstücks aus meinem Teller, Porridge mit Ahornsirup, wobei sie aufmerksam beobachtet, wie ich das Putztürchen des Eisenofens öffne, eine zusammengeknüllte Zeitungsseite ins Aschefach stopfe und anzünde, um den Propf kalter Luft durchs Ofenrohr zu jagen, damit kein Rauch ins Zimmer drückt. Eine der Vogelfedern, die meine Frau zwischen den Rahmen der Küchentür und die Wand gesteckt hat, ist zu Boden gefallen; wahrscheinlich hat Smilla sich damit beschäftigt. Im September hatten sich Sperlinge, Spottdrosseln und Tauben gemausert, und wir hatten Dutzende abgeworfener Schwungfedern sowie kiellose Daunen aufgesammelt. Die Küchentür trägt einen Kopfputz wie ein Häuptling.
Als das Feuer zieht, lege ich trockene Birkenscheite in die Feuerkammer, rücke den Schaukelstuhl, auf dem Smilla tagsüber am liebsten schläft, dicht vor den Ofen und schließe den Schieber. Ich muss Anfeuerspäne schlagen und Brennholz aus der Garage holen.
Wie viele Notizbücher hat er in den vergangenen achtunddreißig Jahren aufgeschlagen, wie viele Blatt Papier in wie viele Schreibmaschinen gedreht und nach wenigen getippten Zeilen wieder herausgezerrt, zerknüllt und durchs Zimmer