Cardiff am Meer. Joyce Carol Oates. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Joyce Carol Oates
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783955102487
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–«

      Clare stammelt, dass sie ihren Koffer selbst die Treppe hochtragen kann. Er ist nicht schwer, gar kein Problem …

      »Aber nein, davon wollen wir gar nichts hören, liebe Clare –«

      »Du bist so weit gereist, du bist unser Gast –«

      »Wenn doch nur Maude hier wäre –«

      »– allerdings, wenn Maude hier wäre, dann gäbe es ja kein – Testament … Und keine Clare.«

      »Oh! Nicht gerade gastfreundlich deine Begrüßung. Du solltest dich schämen

      »Du solltest dich schämen! – dass du so etwas überhaupt denkst

      Clare lächelt verlegen. Sie hat nur wenig Erfahrung damit, dass »Verwandte« so viel Wirbel um sie machen, die (doch eigentlich) Fremde für sie sind, allerdings nicht den herkömmlichen Abstand wahren, so wie man es von Fremden kennt.

      Versucht den Gedanken abzuwehren, es sei vielleicht ein Fehler, bei diesen Großtanten zu wohnen.

      Sie fragt sich trotzdem, warum sie Ja zu dieser Einladung gesagt hat. Wie viel einfacher wäre es gewesen, in einem Hotel in der Nähe zu wohnen.

      Verführt von dem Gedanken an eine Familie. Diese älteren Damen sind die einzigen Blutsverwandten, die Clare seit ihrer Adoption kennengelernt hat, und an die Adoption kann sie sich noch nicht einmal erinnern.

      Wird sie von der größeren, lebhafteren der beiden Frauen, Elspeth, warmherzig empfangen? Oder ist das Morag?

      Beide Großtanten starren sie gierig an. Hungrig.

      Beide Frauen sind kleiner als Clare, die mit 1,70 m eine durchschnittliche Größe hat; die kleinere der beiden Schwestern ist um einiges kleiner und scheint eine deformierte Wirbelsäule zu haben. Die größere und wohl jüngere Schwester hat ein elfenbeinblasses Gesicht mit kaum sichtbaren Falten. Dem Gesicht wurde eine »prachtvolle« Maske aus Rouge, Linien und Puder aufgesetzt – gewölbte Augenbrauen, errötete Wangen, eine Rosenknospe als Mund; ihr aufgebauschtes Haar hat eine unnatürlich orangerote Färbung und die luftige Struktur von Zuckerwatte. Die kleinere, wohl ältere Schwester mit der gekrümmten Wirbelsäule hat ein eingedrücktes Mopsgesicht, eine niedrige Stirn, ein käsig-bleiches Gesicht, spärliche Augenbrauen und so gut wie keine Wimpern. Ihr Mund ist schmallippig, aber breit.

      Elspeth, die größere, ist festlich gekleidet, trägt ein stahlblaues Satinkleid, einen schwarzen Spitzenschal über ihren mageren Schultern; Morag, plump und schwerfällig wie ein Hydrant, trägt eine Art Männerkleidung – formlose dunkle Hosen aus weichem Stoff, so wie Jersey, nicht sehr sauber, und einen Pullover mit Zopfmuster und Rollkragen. Ihr Haar ist nicht gefärbt, wie das ihrer Schwester, sondern eine Mischung aus steingrau und kalkweiß, recht fest, aber auch schon so dünn, dass Clare den blassen, verwundbaren Schädel hindurchschimmern sieht. Die größere, modischer gekleidete Elspeth trägt ein silbernes Brillengestell; Morags Brille ist klobig, ein schwarzes Plastikgestell.

      Clare hat das vage und unheimliche Gefühl, dass jemand aus dem Hintergrund oder vom äußersten Rand ihres Blickfeldes aus zuschaut. Noch eine Großtante?

      Aber als sie sich umdreht, ist da niemand. Ein schwach beleuchteter Flur führt vom Foyer in das düstere Innere des Hauses.

      Die Großtanten drängen sich dicht an Clare heran, so als ob sie sie bewachen wollten. Sie bestehen darauf, dass sie mit ihnen zu Abend isst. »Das wird dir deine Farbe wiedergeben. Du bist so bleich wie ein Gespenst.«

      »Als ob sie je ein Gespenst gesehen hätte.« Die andere Schwester lacht verächtlich.

      »Sagt man doch so. Davon hast du ja keine Ahnung.«

      »Dafür weiß ich: du bist die einzige dumme Person, die jemals ein Gespenst gesehen hat und sich damit brüstet.«

      »Ich doch nicht – mich brüsten!«

      »Also, wenn Clare jetzt ein Gespenst sieht, dann weiß ich, dass es deine Schuld ist – du hast ihr das in den Kopf gesetzt.«

      »Du, du weißt nicht immer alles.«

      Clare ist sich unsicher, ob sie über das Gezanke der Schwestern lachen oder versuchen soll, es zu ignorieren. Sie versteht, dass der heftige Schlagabtausch ihretwegen geschieht und sie möchte nicht ins Fettnäpfchen treten und jemanden beleidigen, indem sie sich mit der einen Großtante auf Kosten der anderen amüsiert.

      Elspeth ist die witzigere, aber auch gemeinere; Morag ist nicht so schlagfertig, hat aber eine ganz besondere Art, wie eine Bulldogge aufzubrausen, erzürnt. Auf den ersten Blick scheint Elspeth die stärkere der beiden, da ihr Körper besser in Form zu sein scheint, doch tatsächlich ist Morag die robustere, sie steht mit beiden Beinen fest auf dem Boden.

      Beide sind sehr freundlich und zuvorkommend ihrem Gast gegenüber und scheinen aufrichtig besorgt um Clare.

      »Bitte komm hier herein, Clare, setz dich bitte – du hast viel durchgemacht. Wir hatten das Abendessen schon länger fertig …«

      »Nicht sehr nett, einem Gast so etwas zu sagen! ›Schon länger fertig‹ – das ist doch ungehörig.«

      »Ich wollte doch nur –«

      »– ignorier sie einfach, Clare; meine Schwester hat so selten Besuch, dass sie ihre guten Manieren verloren hat.«

      » – wollte doch nur sagen, dass das Essen langsam kalt wird.«

      »Na und – wärmen wir es einfach wieder auf …«

      Wie kleine Kinder oder junge Hunde, die um Zuneigung betteln, so wetteifern auch die Großtanten um Clares Aufmerksamkeit, sehr unangenehm für sie. Wieder hat sie das vage Gefühl, dass noch eine weitere Person, vielleicht eine dritte Großtante, eine gespenstische Figur, irgendwo in der Nähe ist und gleich das Essen hereinbringen wird.

      In einem mit schweren Antikmöbeln, Läufern und Wandteppichen überladenen Salon wird Clare gedrängt, sich auf einem Samtsofa niederzulassen, das heimtückisch unter ihrem Gewicht knarrt. Auch hier kann sie Moder und Schimmel deutlich riechen, dazu ein scharfer, erdig-sandiger Geruch, den sie als Ausscheidungen von Nagetieren definiert, weil sie Ähnliches an anderen, nicht sehr sauberen Orten schon gerochen hat.

      »Wir wissen, dass du müde bist, liebe Clare, und jetzt gerne in deinem Zimmer ungestört sein möchtest, aber – wir haben noch so viel zu bereden!«

      »Woher weißt du, dass das Kind ungestört sein möchte? Sie ist ausgehungert, sieh sie doch mal an! Sie möchte Tee und dann Abendbrot.«

      »– Tee zum Abendbrot? –«

      »– es sei denn, wir haben nur Pepperidge Farm Cookies und nicht diese warmen Scones mit Butter und Clotted Cream und diversen Marmeladen und Gelees, so wie sie im Ritz serviert werden, aber –«

      »Oh, im Ritz! Sie möchte, dass du sie fragst ›Welches Ritz‹, damit sie antworten kann ›das Ritz am Piccadilly‹. Du weißt schon – London.«

      Elspeths Worte klingen verächtlich. Als Morag protestiert, erwidert Elspeth, als ob es um ihr Herzensthema ginge: »Und damit meine ich nicht London, Connecticut –«

      »New London, Connecticut –«

      »Oh, hör auf! Kannst du denn damit keine Ruhe geben! Ein einziges Mal hat unser Vater uns Mädchen zum Abendessen mit ins Ritz genommen, und sie ist nie darüber hinweggekommen –«

      »– sie ist nie darüber hinweggekommen –«

      »– und weißt du was, Clare? – der Tee war English Breakfast Tea, und der hatte noch nicht einmal richtig in einer Teekanne gezogen, es waren Teebeutel

      Clare lacht, unsicher, warum dies lustig sein und sie vielleicht lachen sollte. Es erscheint ihr gemein von der größeren, attraktiveren, jünger erscheinenden Elspeth, in solch spöttischem Unterton zu reden und damit ihre zwergenhafte, aufrichtig und ernsthaft sprechende