Clare steht stocksteif, hört zu. Den Unfall?
»Solch ein Anblick, das war eine traumatische Erfahrung für Gerard. Er hat sich nie wieder erholt. Er erlitt einen Nervenzusammenbruch, wie es so heißt – hat sich nie davon erholt.«
»Und welch Tragödie für die Kirche, solch einen tiefgläubigen Priester zu verlieren! Jeder, der ihn kannte, sagte, er sei dazu bestimmt, Priester zu werden – schon als er ein kleiner Junge war, konnte man die Gottergebenheit in seinem Gesicht sehen.«
»Er sang im Chor – ein glockenreiner Knabensopran …«
»Ganz anders als Conor – der war kein Typ, der alles in der Welt aufgegeben hätte für Gott, so wie Gerard …«
»Oh, Conor! Er hat auch einen hohen Preis bezahlt – weil er die Welt zu sehr geliebt hat.«
»Weil er sie zu sehr geliebt hat.«
»Ach ja! Gott hab ihn selig.«
»Gott hab sie alle selig.«
Clare hört gespannt zu, dankbar. Sie? War damit ihre Mutter gemeint, Kathryn? Sie glaubt, dass die Großtanten ihr in ihrer wahnsinnig verqueren Art wichtige Informationen mitteilen werden. »Der Unfall – meinst du den Unfall, in dem meine Eltern gestorben sind? Ein Autounfall?«
Elspeth fängt Morags Blick ab, so als ob sie sie warnen wollte – Kein Wort.
Doch jetzt sprechen alle so offen. Clare vermutet, dass man von ihr erwartet, alles mitzubekommen und nachzufragen.
»Du hast gesagt, Gerard habe den Unfall ›entdeckt‹? Heißt das – auf der Straße? Auf der Autobahn? Ist er rausgefahren, um zu schauen, wo sie geblieben sind? Willst du das damit sagen?« Clare fühlt sich wie ein strampelnder Schwimmer kurz vor dem Ertrinken. Doch die Großtanten blicken sie nur stumm an, als beobachteten sie sie von Land aus, neugierig abwartend, nicht sehr wohlwollend.
Elspeth seufzt wieder einmal, gereizt. Morags schmaler Mund verzieht sich, um ein Lachen zu unterdrücken.
»Wer hat denn gesagt, dass Gerard jemanden auf der Autobahn entdeckt hat? Niemand. Gerard war derjenige, der – (wir kennen überhaupt keine Einzelheiten darüber, sie wurden uns vorenthalten) – sie entdeckt hat –«
»– die Körper …«
»– die Überreste, wollte ich sagen. Überreste heißt das doch, glaube ich.«
»Überreste ist ein schrecklicher Begriff! Hör auf damit.«
»Hör du auf. Mach dich nicht lächerlich.«
Clare fühlt sich benommen, orientierungslos. Es macht ihr Mühe, die beiden betagten Damen weiterhin freundlich anzulächeln, wenn die beiden ihrerseits nur sich gegenseitig anblicken und Clare ignorieren, so als ob das Gespräch sie gar nichts anginge.
Sie haben eine Salve kleiner Pfeile in ihr Herz geschossen. Und sie hat keine Ahnung, wie schwer sie jetzt schon verwundet ist.
»Entschuldigt mich! Es reicht«, sagt sie, bevor sie sich auf den Weg die Treppe hoch in ihr Zimmer macht. In dem antiquierten Bad neben ihrem Zimmer muss sie vor der altertümlichen Toilette hockend einem Würgeanfall nachgeben, sie schwitzt, fühlt sich hundeelend; sie schafft es lediglich, eine dünne, widerlich schmeckende Flüssigkeit auszuspucken. Doch das, was sie so krank fühlen lässt, ist ein harter und klebriger kleiner Ball in ihrem Magen, der sich nicht so leicht rauswürgen lässt.
Hassen sie mich, weil ich Erbin des Anwesens ihrer Schwester bin? Weil ich nicht eine von ihnen bin, kein Recht habe, hier zu sein? Haben sie mich etwa vergiftet – nochmals?
8.
Fest entschlossen hatte sie diese Gedanken ihr ganzes Leben lang verdrängt – die Gedanken an ihre (leiblichen) Eltern.
Jetzt ist sie besessen von den Gedanken an sie. Sie fressen sich wie Zecken tief in ihr Fleisch.
Winzige, verhasste Insekten, die man sich nicht traut mit einer Pinzette herauszuziehen, aus Angst, ihre schwarzen Körper in Stücke zu reißen, unwiederbringlich.
Will unbedingt wissen, ob ihre Eltern noch leben oder tot sind. Und falls gestorben, wie? Warum? Und warum wurde sie zur Adoption freigegeben, wenn die Donegals doch wohlhabend waren?
Clare wird nachfragen, wo ihre Eltern begraben sind. (Wenn sie überhaupt begraben sind. Egal, wo.) Ein Friedhofsbesuch hier in Cardiff. Wie auf einem traumgleichen Foto von Julia Margaret Cameron wird sie durch diesen grauen und gespenstischen Tag wandeln, unter schweren Wolken und prasselndem Regen.
Hartnäckig und trotzig wie ein Kind wird sie versuchen, sich ihre eigenen Gedanken zu verbieten. Vielleicht ist ja einer von den beiden noch am Leben, wenigstens einer. Kann doch sein.
Welch große Erleichterung, das bedrückende Steinhaus in der Acton Avenue verlassen zu können!
Draußen ist die Luft frischer. Sie kann tief durchatmen. Der verhangene Himmel scheint sich Schicht für Schicht in durchscheinende Wolken aufzulösen. Sie schaut herum, fragt sich, ob sie ihn sieht – wen? Eine hinkende Gestalt …
Aber nein. Niemand.
Fährt in die Innenstadt von Cardiff zu Lucius Fischers Kanzlei. Ihr Termin ist um elf Uhr morgens, und sie möchte auf keinen Fall zu spät kommen. Ihre Gedanken sind ein heilloses Durcheinander, zerfahren. Weiß nicht, was sie von ihren Großtanten halten soll – ob sie auf ihrer Seite sind.
Möchte sich nicht lächerlich machen. Natürlich meinen die betagten Großtanten es gut mit ihr. Sie sind nervtötend, zum Verzweifeln – aber im Grunde sind sie ihre Freundinnen.
Trotz allem – Clare hat das Gefühl, dass die beiden sich manchmal über sie lustig machen. Sie verhöhnen, gehässig.
Als sie versucht, sich zu erinnern, was sie ihr über ihre Eltern erzählt haben, fällt ihr nichts ein. Es fühlt sich an, als ob ein grober Stoff vor ihrem Gesicht hinge – durch den sie weder sehen noch hören kann.
Leben sie, oder – nicht? Bitte sagt es mir.
Noch immer ist sie wacklig auf den Beinen nach dem Würgeanfall. Die Übelkeit ist nahezu weg, doch der klebrige Brocken Haferbrei drückt weiterhin in ihrem Bauch.
Sie nimmt sich vor, noch am selben Nachmittag das Donegal-Haus zu verlassen. Direkt nach dem Termin mit Fischer. Kann es nicht erneut riskieren, dort eine Mahlzeit zu sich zu nehmen. Selbst wenn die Tanten nicht versuchen, sie zu vergiften, kann das Essen, was sie ihr geben, doch verdorben sein, vergammelt.
Je nachdem, was Lucius Fischer ihr mitteilt, wird sie möglicherweise schon am folgenden Morgen nach Bryn Mawr zurückkehren.
Ihr Erbe ausschlagen, wäre möglich. Ja.
Eine schnelle Entscheidung. Wie wenn man spontan nach einem Messer greift und sich die eigene Gurgel aufschlitzt.
So wie sie einmal einem Liebhaber mitgeteilt hat – aus heiterem Himmel – Das war’s. Es reicht. Ich glaube, wir sind am Ende.
Ihr einziges Erbe. Ihre einzige Verbindung zu Blutsverwandten. Verbindung zu ihren (verstorbenen) Eltern.
Sie könnte es ausschlagen. Sie braucht die Donegals nicht in ihrem Leben. Sie hat den größten Teil ihres Lebens ohne sie gelebt, warum sollte sie ihnen jetzt ausgeliefert sein?
Die Art und Weise, in der Gerard Donegal hart seinen Stuhl zurückgeschoben hat, sich auf die Füße hochgewuchtet und ihr den Rücken zugewandt hat, und wie er dann rausspaziert ist. Der