Wie sich herausstellte, hatte Ronald M. Preston gründliche Vorarbeit geleistet. In einem Aktenköfferchen, das er aus dem Hotel holte, befanden sich die Unterlagen über ein paar Dutzend Exekutionen mit kurz gefassten Darstellungen der Hingerichteten, der Urteile, und der ihnen zugrunde liegenden Verbrechen. Ein Anhang wies aus, wie groß die Zahl der Angehörigen war, die noch lebten, außerdem waren ihre Adressen vermerkt, und ihre Vorstrafen. Preston hatte darüber hinaus eingetragen, ob er den Erwähnten einen Racheakt von der Art zutraute, von dem er gesprochen hatte.
Die Fülle des Materials brachte es mit sich, dass einige Angaben nur vage und unvollständig waren. Preston wusste um diesen Schwachpunkt seiner Arbeit und bekannte: „Ich habe mich zwar bemüht, systematisch vorzugehen, gewissermaßen nach wissenschaftlichen Leitlinien, aber vor dieser Unzahl von Namen und Möglichkeiten musste ich beinahe kapitulieren. Außerdem war es schlechthin nicht machbar, diejenigen zu erfassen, die bislang ohne Vorstrafen durchs Leben gegangen sind und irgendwo als scheinbar brave Bürger leben.“
„Scheinbar?“, fragte Bount amüsiert.
„Natürlich scheinbar! Muss immerzu an einen Nachbarn denken, der, als ich noch jung war, jahrelang neben uns wohnte und allgemein als großartiger Bursche galt - bis die Polizei ihn des Kindesmordes überführte. Seitdem hat meine Überzeugung, dass man einen Gauner schon an der Nasenspitze erkennt, stark gelitten.“
Bount, der in Prestons Gegenwart das Material sichtete, sah, was auf ihn zukam. Er konnte sich nicht erinnern, jemals mit einer solchen Fülle von Verdächtigen konfrontiert worden zu sein - ohne Anhaltspunkte für ein Tätigwerden zu bekommen, oder sagen zu können, wie oder wo es Schwerpunkte zu setzen galt.
„Der Henker“, fragte Bount. „Lebt er noch?“
„Ja.“
„Wo?“
„Hier in New York. Er hielt es damals aus verständlichen Gründen für besser, Louisiana zu verlassen.“
„Wie heißt er?“
„Sein richtiger Name ist Martin Cervant“, erwiderte Ronald M. Preston, „aber nach seiner Pensionierung waren er und die Behörden der Meinung, es sei klüger, ihn mit einer neuen Identität auszustatten.“
„Wie lautet sie?“
„Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, dass Sie darüber nicht sprechen dürfen - mit keinem Menschen, nicht einmal mit Ihren Mitarbeitern“, sagte Preston.
„Die sind absolut zuverlässig. Wären sie es nicht, könnte ich den Laden schließen.“
„Okay, der Mann heißt jetzt Dark. Derek Dark.“ Preston kicherte kurz. Es klang ein wenig unheimlich, sogar ein bisschen verrückt. „Ein passender Name für einen, dessen Beruf es war, Menschen vom Leben zum Tode zu befördern, nicht wahr? Dark wohnt in der östlichen Einundsechzigsten.“
„Wie alt ist er jetzt?“
„So alt wie ich. Zweiundsechzig.“
„Er bezieht eine ausreichende Rente, nehme ich an?“
„Soweit ich es erkennen kann, lebt er nicht schlecht“, meinte Preston ausweichend.
„Weiß er, dass man den elektrischen Stuhl aus dem Magazin gestohlen hat?“
„Ja.“
„Sie haben es ihm gesagt?“
„Ich war bei ihm, noch ehe ich Sie aufsuchte“, erwiderte Preston. „Wir haben über alte Zeiten gesprochen, aber natürlich auch über diesen ärgerlichen, mysteriösen Diebstahl.“
„Wie hat er die Nachricht vom Verschwinden des elektrischen Stuhls aufgenommen?“
„Erstaunlich ruhig und gefasst. Dark ist ein ungewöhnlich sanfter Mann.“ Preston lächelte. „Wir waren damals miteinander befreundet. Ich war seinerzeit Sheriff von Ponchatoula, einem Ort in der Nähe von Hammond.“
„Henker haben keine Freunde“, meinte Bount. „Jedenfalls war ich bis heute der Meinung, dass es sich so verhält.“
„Für den Normalfall dürfte das zutreffen, aber mir imponierte dieser Mann, ich hatte Respekt vor ihm. Er leistete eine Arbeit, mit der andere sich nicht die Hände schmutzig machen wollten, und der dennoch merkwürdig kultiviert blieb, ein Mann mit guten Manieren, ein gebildeter und sehr angenehmer Gesprächspartner - und einer, den ich im Schachspiel nicht ein einziges Mal zu schlagen vermochte.“
„Zu welchem Schluss ist er hinsichtlich des Stuhldiebstahls gekommen?“
„Es wird am besten sein, Sie sprechen selbst mit ihm. Ich rufe ihn an und teile ihm mit, dass es mir gelungen ist, Sie für die Aufgabe zu gewinnen. Einverstanden?“
„Ja. Wo soll ich wohnen, wenn ich nach Hammond komme?“
„Es gibt nur ein einziges Hotel, das ich Ihnen empfehlen kann - das SOUTHERN PLAZA. Sie können unbesorgt unter Ihrem Namen absteigen, aber natürlich rate ich Ihnen davon ab, Ihren Beruf zu erwähnen. In Hammond machen Nachrichten, die aus dem Rahmen fallen, schnell die Runde.“
„Trotzdem hat sich noch nicht herumgesprochen, dass aus Ihrem Magazin der elektrische Stuhl gestohlen wurde?“
„Dazu ist zu sagen, dass das Ungetüm in einer Kiste eingemottet war, die nur Buchstaben trug und angeblich eine ausrangierte Dampfmaschine enthielt. Die Männer, die im Magazin arbeiten, wussten und wissen nicht, was in der Kiste war. Sie sind bis heute der Meinung, dass jemand eine Dampfmaschine geklaut hat.“
„Wie kann ich in Hammond mit Ihnen in Verbindung treten, ohne dabei aufzufallen?“
„Wir haben vor, das Magazin zu erweitern und sind dabei, eine Reihe von Angeboten einzuholen. Gegenwärtig geben diese Leute sich bei mir die Klinke buchstäblich in die Hand. Ich rate Ihnen, sich als Contractor auszugeben, als ein Mann, der sich um den Auftrag bemüht. Außerdem können Sie mich jederzeit unter meiner Privatnummer erreichen. Sie befindet sich bei den Papieren im Koffer.“
„Danke“, sagte Bount und erhob sich. „Ehe ich mit Dark spreche und nach Hammond komme, knöpfe ich mir Ihre Unterlagen vor.“
Preston stand auf. Sein Gesicht wirkte seltsam verhangen, als er sagte: „Ich hoffe, Sie bereuen nicht, den Auftrag angenommen zu haben. Eine Ahnung sagt mir, dass Sie keine leichte Arbeit erwartet, sondern eine Begegnung mit Blut, Schweiß und Tränen ...“
Bount brachte den Besucher durch das Vorzimmer zum Ausgang. Dort verabschiedete er ihn.
„Ich fahre morgen nach Hammond, Louisiana“, informierte Bount June, die ihre Schreibmaschinenarbeit unterbrochen hatte und ihn aufmerksam ansah. „Es kann einige Zeit dauern, bis ich zurückkomme. In der Zwischenzeit werden Wilkie und du alle Hände voll zu tun haben, um den Laden hier in Schwung zu halten.“
„Das schaffen wir schon“, meinte June, „aber ohne dich macht es keinen Spaß. Was hast du mit Hammond vor? Beabsichtigst du den Erfinder der gleichnamigen Orgel zu besuchen?“, schloss sie spöttisch.
„Nein“, erwiderte Bount grinsend. „Ich interessiere mich für einen anderen Erfinder. Er ist offenbar dabei, eine Methode zu entwickeln, die es ihm ermöglicht, mit Hilfe von staatlichem Eigentum private Exekutionen vorzunehmen.
3
Das Haus 97 in der 61ten östlichen Straße war alt, schmal und äußerlich nicht sehr gepflegt. Das hatte nicht viel zu bedeuten. Gerade in dieser Gegend schienen es die Hausbesitzer in einer Art schweigender Übereinkunft darauf angelegt zu haben, Armut und Verfall vorzutäuschen, obwohl hinter den Fassaden fast ausnahmslos Wohlstand herrschte. Möglicherweise glaubte man mit dieser Technik Einbrecher abzuschrecken.
Das Haus hatte vier Stockwerke. Dark wohnte im Dachgeschoss. In der zweiten Etage überholte Bount eine dicke, schwitzende Frau, deren rundes, pausbäckiges Gesicht durch