Maury erzählt (1878, 92), dass er von seiner Vaterstadt Meaux als Kind häufig nach dem nahe gelegenen Trilport gekommen war, wo sein Vater den Bau einer Brücke leitete. In einer Nacht versetzt ihn der Traum nach Trilport und lässt ihn wieder in den Straßen der Stadt spielen. Ein Mann nähert sich ihm, der eine Art Uniform trägt. Maury fragt ihn nach seinem Namen; er stellt sich vor, er heiße C… und sei Brückenwächter. Nach dem Erwachen fragt der an der Wirklichkeit der Erinnerung noch zweifelnde Maury eine alte Dienerin, die seit der Kindheit bei ihm ist, ob sie sich an einen Mann dieses Namens erinnern kann. »Gewiss«, lautet die Antwort, »er war der Wächter der Brücke, die Ihr Vater damals gebaut hat.«
Ein ebenso schön bestätigtes Beispiel von der Sicherheit der im Traume auftretenden Kindheitserinnerung berichtet Maury von einem Herrn F…, der als Kind in Montbrison aufgewachsen war. Dieser Mann beschloss, fünfundzwanzig Jahre nach seinem Weggang, die Heimat und alte, seither nicht gesehene Freunde der Familie wieder zu besuchen. In der Nacht vor seiner Abreise träumt er, dass er am Ziele ist und in der Nähe von Montbrison einem ihm vom Ansehen unbekannten Herrn begegnet, der ihm sagt, er sei der Herr T., ein Freund seines Vaters. Der Träumer wusste, dass er einen Herrn dieses Namens als Kind gekannt hatte, erinnerte sich aber im Wachen nicht mehr an sein Aussehen. Einige Tage später nun wirklich in Montbrison angelangt, findet er die für unbekannt gehaltene Lokalität des Traumes wieder und begegnet einem Herrn, den er sofort als den T. des Traumes erkennt. Die wirkliche Person war nur stärker gealtert, als sie das Traumbild gezeigt hatte.
Ich kann hier einen eigenen Traum erzählen, in dem der zu erinnernde Eindruck durch eine Beziehung ersetzt ist. Ich sah in einem Traum eine Person, von der ich im Traum wusste, es sei der Arzt meines heimatlichen Ortes. Ihr Gesicht war nicht deutlich, sie vermengte sich aber mit der Vorstellung eines meiner Gymnasiallehrer, den ich noch heute gelegentlich treffe. Welche Beziehung die beiden Personen verknüpfe, konnte ich dann im Wachen nicht ausfindig machen. Als ich aber meine Mutter nach dem Arzt dieser meiner ersten Kinderjahre fragte, erfuhr ich, dass er einäugig gewesen war, und einäugig ist auch der Gymnasiallehrer, dessen Person die des Arztes im Traum gedeckt hatte. Es waren achtunddreißig Jahre her, dass ich den Arzt nicht mehr gesehen, und ich habe meines Wissens im wachen Leben niemals an ihn gedacht, obwohl eine Narbe am Kinn mich an seine Hilfeleistung hätte erinnern können.
Es klingt, als sollte ein Gegengewicht gegen die übergroße Rolle der Kindheitseindrücke im Traumleben geschaffen werden, wenn mehrere Autoren behaupten, in den meisten Träumen ließen sich Elemente aus den allerjüngsten Tagen nachweisen. Robert (1886, 46) äußert sogar: Im Allgemeinen beschäftigt sich der normale Traum nur mit den Eindrücken der letztvergangenen Tage. Wir werden allerdings erfahren, dass die von Robert aufgebaute Theorie des Traumes eine solche Zurückdrängung der ältesten und Vorschiebung der jüngsten Eindrücke gebieterisch fordert. Die Tatsache aber, der Robert Ausdruck gibt, besteht, wie ich nach eigenen Untersuchungen versichern kann, zu Recht. Ein amerikanischer Autor, Nelson, meint, am häufigsten fänden sich im Traum Eindrücke vom Tage vor dem Traumtag oder vom dritten Tag vorher verwertet, als ob die Eindrücke des dem Traum unmittelbar vorhergehenden Tages nicht abgeschwächt – nicht abgelegen – genug wären.
Es ist mehreren Autoren, die den intimen Zusammenhang des Trauminhaltes mit dem Wachleben nicht bezweifeln mochten, aufgefallen, dass Eindrücke, welche das wache Denken intensiv beschäftigen, erst dann im Traume auftreten, wenn sie von der Tagesgedankenarbeit einigermaßen zur Seite gedrängt worden sind. So träumt man in der Regel von einem lieben Toten nicht die erste Zeit, solange die Trauer den Überlebenden ganz ausfüllt (Delage, 1891). Indes hat eine der letzten Beobachterinnen, Miss Hallam, auch Beispiele vom gegenteiligen Verhalten gesammelt und vertritt für diesen Punkt das Recht der psychologischen Individualität (Hallam und Weed, 1896).
Die dritte, merkwürdigste und unverständlichste Eigentümlichkeit des Gedächtnisses im Traum zeigt sich in der Auswahl des reproduzierten Materials, indem nicht wie im Wachen nur das Bedeutsamste, sondern im Gegenteil auch das Gleichgültigste, Unscheinbarste der Erinnerung wertgehalten wird. Ich lasse hierüber jene Autoren zu Worte kommen, welche ihrer Verwunderung den kräftigsten Ausdruck gegeben haben.
Hildebrandt (1875, 11): »Denn das ist das Merkwürdige, dass der Traum seine Elemente in der Regel nicht aus den großen und tiefgreifenden Ereignissen, nicht aus den mächtigen und treibenden Interessen des vergangenen Tages, sondern aus den nebensächlichen Zugaben, sozusagen aus den wertlosen Brocken der jüngst verlebten oder weiter rückwärts liegenden Vergangenheit nimmt. Der erschütternde Todesfall in unserer Familie, unter dessen Eindrücken wir spät einschlafen, bleibt ausgelöscht aus unserem Gedächtnisse, bis ihn der erste wache Augenblick mit betrübender Gewalt in dasselbe zurückkehren lässt. Dagegen die Warze auf der Stirn eines Fremden, der uns begegnete und an den wir keinen Augenblick mehr dachten, nachdem wir an ihm vorübergegangen waren, die spielt eine Rolle in unserem Traume…«
Strümpell (1877, 39): »… solche Fälle, wo die Zerlegung eines Traumes Bestandteile desselben auffindet, die zwar aus den Erlebnissen des vorigen oder vorletzten Tages stammen, aber doch so unbedeutend und wertlos für das wache Bewusstsein waren, dass sie kurz nach dem Erleben der Vergessenheit anheimfielen. Dergleichen Erlebnisse sind etwa zufällig gehörte Äußerungen oder oberflächlich bemerkte Handlungen eines anderen, rasch vorübergegangene Wahrnehmungen von Dingen oder Personen, einzelne kleine Stücke aus einer Lektüre u. dgl.«
Havelock Ellis (1899, 727): »The profound emotions of waking life, the questions and problems on which we spread our chief voluntary mental energy, are not those which usually present themselves at once to dream consciousness. It is, so far as the immediate past is concerned, mostly the trifling, the incidental, the ›forgotten‹ impressions of daily life which reappear in our dreams. The psychic activities that are awake most intensely are those that sleep most profoundly.«
Binz (1878, 44–5) nimmt gerade die in Rede stehenden Eigentümlichkeiten des Gedächtnisses im Traume zum Anlass, seine Unbefriedigung mit den von ihm selbst unterstützten Erklärungen des Traumes auszusprechen: »Und der natürliche Traum stellt uns ähnliche Fragen. Warum träumen wir nicht immer die Gedächtniseindrücke der letztverlebten Tage, sondern tauchen oft ein, ohne irgend erkennbares Motiv, in weit hinter uns liegende, fast erloschene Vergangenheit? Warum empfängt im Traum das Bewusstsein so oft den Eindruck gleichgültiger Erinnerungsbilder, während die Gehirnzellen da, wo sie die reizbarsten Aufzeichnungen des Erlebten in sich tragen, meist stumm und starr liegen, es sei denn, dass eine akute Auffrischung während des Wachens sie kurz vorher erregt hatte?«
Man sieht leicht ein, wie die sonderbare Vorliebe des Traumgedächtnisses für das Gleichgültige und darum Unbeachtete an den Tageserlebnissen zumeist dazu führen musste, die Abhängigkeit des Traumes vom Tagesleben überhaupt zu verkennen und dann wenigstens den Nachweis derselben in jedem einzelnen Falle zu erschweren. So war es möglich, dass Miss Whiton Calkins (1893) bei der statistischen Bearbeitung ihrer (und ihres Gefährten) Träume doch elf Prozent der Anzahl übrigbehielt, in denen eine Beziehung zum Tagesleben nicht ersichtlich war. Sicherlich hat Hildebrandt mit der Behauptung recht (1875), dass sich alle Traumbilder uns genetisch erklären würden, wenn wir jedes Mal Zeit und Sammlung genug darauf verwendeten, ihrer Herkunft nachzuspüren. Er nennt dies freilich »ein äußerst mühseliges und undankbares Geschäft. Denn es liefe ja meistens darauf hinaus, allerlei psychisch ganz wertlose Dinge in den abgelegensten Winkeln der Gedächtniskammer aufzustöbern, allerlei völlig indifferente Momente längst vergangener Zeit aus der Verschüttung, die ihnen vielleicht schon die nächste Stunde brachte, wieder zutage zu fördern«. Ich muss aber doch bedauern, dass der scharfsinnige Autor sich von der Verfolgung des so unscheinbar beginnenden Weges abhalten ließ; er hätte ihn unmittelbar zum Zentrum der Traumerklärung geleitet.
Das Verhalten des Traumgedächtnisses ist sicherlich höchst bedeutsam für jede Theorie des Gedächtnisses überhaupt. Es lehrt, dass »Nichts, was wir geistig einmal besessen, ganz und gar verlorengehen kann« (Scholz, 1887, 34). Oder, wie Delboeuf es ausdrückt, »que tonte impression même la plus insignifiante, laisse une trace inaltérable, indéfmiment susceptible