Fontanes Kriegsgefangenschaft. Robert Rauh. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Robert Rauh
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Изобразительное искусство, фотография
Год издания: 0
isbn: 9783839321430
Скачать книгу
würden ihn viel mehr ängstigen als die franctireurs [französische Freischärler].[39] Die Reise, so resümierte er bereits nach fünf Tagen, sei, wenn es so fortgeht, im höchsten Maße lehrreich, interessant und geradezu erhebend.[40]

      Fontane war bereits am 28. September auf dem ersten Kriegsschauplatz, der elsässischen Grenzstadt Weißenburg [frz.: Wissembourg], angekommen.[41] Im Notizbuch beschrieb er die Stadt und die Stimmung – französisch, aber antikaiserlich – und hielt nüchtern fest: Das Land wird nun wieder deutsch werden.[42] Außerdem notierte Fontane für sein Kriegsbuch erste Beobachtungen und Befragungen über die Gefechte[43] und reiste – etwas fiebrig vom windigen Wetter – einen Tag später auf das nächste Schlachtfeld nach Wörth[44], wo er auf der Kuppe Station machte, auf der Kronprinz [Friedrich Wilhelm] gestanden und die Bataille geleitet hatte.[45]

      Über die Franzosen I

      Fontanes Notizen enthalten – neben den Beschreibungen der Kriegsgebiete – auch Eindrücke von Land und Leuten, die er, wie bei früheren Unternehmungen, für Reisefeuilletons in verschiedenen Zeitungen verwenden wollte. So hielt er nach seinem Aufenthalt in Wörth am 29. oder 30. September fest, die Gegend sei sehr hübsch und sehr wohlhabend, aber man bemerke keine Modernität im guten Sinne; in allem spricht sich der Stillstand eines alten Culturvolkes aus, das es bis zu einer gewissen Höhe gebracht hat, aber darüber auch nicht hinaus will. […] Sehr lehrreich sei ein Vergleich. Ursprünglich wären die Franzosen uns ja unendlich überlegen gewesen, nun aber würden die deutschen Dörfer – zumindest dort, wo Neues eingezogen ist –, in der Art des Häuserbaus, im Ackerbetrieb (so weit ich das beurtheilen kann) in Tracht, überhaupt in Entfaltung einer gewissen bäuerlichen Wohlhabenheit ihnen überlegen. Es würden jene Leute fehlen, wie wir deren zahllose haben, die die Ackerkultur als Wissenschaft treiben und immer Neues ersinnend oder alles Neue erprobend, für stete Fortentwicklung sorgen. In Frankreich sei es muthmaßlich geblieben wie es vor 100 Jahren war.[46] Offenbar griff Fontane auf Erfahrungen während seiner Exkursionen in die Mark Brandenburg zurück. So beschreibt er im Wanderungen-Band Oderland, der 1863 erschienen war, die Agrar-Innovationen der Frau von Friedland in Kunersdorf.[47]

      Etwas verkürzt, aber um so pointierter fiel Fontanes Fazit einige Tage später in seinem Brief an Emilie aus: Wo immer man in Deutschland reist, hat man den Eindruck des Fortschritts, der ascendence [des Aufstiegs], hier überall den Einruck des Rückschritts, des Verfalls. Um dem Vorwurf der Voreingenommenheit zu begegnen, fügte er hinzu, er könne sich in seinen Beobachtungen kaum irren, denn er trage aufgrund seiner vielen Reise-Erfahrungen keine Vorurtheils-Brille. Selbst Österreich, das er zur Recherche seines Buches über den Deutschen Krieg von 1866 bereist hatte, mache nicht sehr den Eindruck der Stagnation wie dieses moderne Frankreich. Außerdem sollte Emilie an seinen Erfahrungen in französischen Unterkünften teilhaben. In den Hotels sei von Luxus, Comfort, Elegance, keine Spur. Natürlich existirt das alles, aber wenn man fast 8 Tage in einem Lande sei, will man doch auch etwas davon gesehn haben. Das Essen ist gut, das Frühstück erbärmlich; der »Tischwein« das Schreckniß aller Deutschen.[48] Fontane wird sich nach solch einem Luxus noch zurücksehnen.

      Zunächst nahm die Reise aber ihren geplanten Verlauf. Am 30. September verließ er Sulz, von wo aus er Wörth besucht hatte, verbrachte die Nacht in Saarbourg im Coupé und kam am 1. Oktober in Blainville an. Dort stieg er in den Postzug nach Nancy um.[49] In Nancy schrieb Fontane einen Tag später an Emilie, er beabsichtige, nach Toul zu fahren. Die Festung war seit dem 12. September belagert und am 23. September – nach einem zehnstündigen Artilleriebeschuss – gerade erst von den Preußen erobert worden. In Toul wollte Fontane einerseits die Gartenmauer sehen, hinter der George mit seinem Bataillon gelegen hat, und andererseits einen Ausflug nach Vaucouleurs und Dom Remy [Domrémy] unternehmen.[50] Einen Ausflug, von dem er nicht wieder nach Toul zurückkehren sollte.

      KRIEGSJOURNALIST AUF ABWEGEN Verhaftung

      Ausflug nach Domrémy

      Es gab Hinweise, es besser nicht zu tun. Vor allem die »Mahnungen seiner Freunde zur äußersten Vorsicht«. Aber Fontane habe sich »nicht abhalten lassen«, erinnerte sich Henriette von Merckel.[1] Auf seiner Reise zu den Kriegsschauplätzen wollte er unbedingt ins Jeanne-d’Arc-Land, um zwei bedeutende Stätten der französischen Nationalheiligen zu besuchen: Domrémy und Vaucouleurs.

      In Domrémy, wo Jeanne d’Arc um 1412 geboren wurde, sollen ihr mit dreizehn Jahren die Heilige Katharina, später auch die Heilige Margarete und der Erzengel Michael erschienen sein. Deren göttliche Botschaft war immer dieselbe: Jeanne müsse Frankreich von den Engländern befreien. Diese Befreiung hätte einen Konflikt beendet, der als Hundertjähriger Krieg (1337–1453) in die Geschichte eingegangen ist.

      Im benachbarten Vaucouleurs versuchte Jeanne d’Arc 1429 den zunächst skeptischen Burgkapitän Robert de Baudricourt für ihre Mission zu gewinnen. Nachdem Baudricourt Jeanne einer Prüfung ihres Glaubens unterzogen hatte, stattete er sie mit einer Eskorte und einem Schwert für die Reise an den französischen Hof aus. Noch im selben Jahr begleitete die inzwischen Siebzehnjährige den französischen König Karl VII. bei der entscheidenden Schlacht vor Orléans gegen die Engländer – und verhalf Frankreich zum Sieg. Während die Franzosen Jeanne d’Arc daraufhin als Heilige verehrten, wurde sie in England als Hexe verdammt. Als sie ein Jahr später in die Hände der Engländer fiel, wurde sie 1431 durch die Inquisition zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt. Im 19. Jahrhundert entwickelte sich die Gestalt des heldenhaften Bauernmädchens zu einem Nationalmythos der Franzosen, der in unzähligen Romanen, Theaterstücken und Gesängen thematisiert wurde. Ihre Lebensstationen wurden zu Pilgerstätten. Jedes Kind in Frankreich kennt den Geburtsort Domrémy, der ihr zu Ehren den Zusatz »la Pucelle« [die Jungfrau] in den Dorfnamen aufnahm. In Deutschland wurde ihre Geschichte vor allem durch Friedrich Schillers 1801 uraufgeführtes Drama Die Jungfrau von Orléans bekannt.

      Im Herbst 1870 befanden sich die Jeanne d’Arc-Orte Domrémy und Vaucouleurs außerhalb der preußisch besetzten Gebiete. Fontane wusste das. Aber sein »romantischer Zug nach dem Geburtsort der Jungfrau war stärker als seine Weisheit, und – die Strafe folgte auf dem Fuße.«[2]

      Auch vor Ort gab es Anzeichen, die als Reisewarnung gedeutet werden konnten. Fontane traf am 3. Oktober in Toul ein, das seit der Kapitulation am 23. September von deutschen Truppen besetzt war. Nachdem er im Hôtel de la ville de Metz abgestiegen war[3], gelang es ihm dank dem Kriege und den Requisitionen nicht, in der ganzen Stadt einen Wagen aufzutreiben. Den Ausflug nach Domrémy selber aufzugeben schien Fontane untunlich; er hätte jede Mühe und jeden Preis darangesetzt.[4] So übte er sich in Geduld und hielt im Notizbuch fest: Viel flanirt. Ein Buch über Jeanne gekauft. Schließlich fand sich bei der kranken Mad[ame] Grosjean doch noch eine Kutsche, die er – nach einer Reparatur – für den nächsten Tag mieten konnte. Zufrieden las er am Abend in »Jeanne d’Arc«, ging [f]rüh zu Bett und startete am nächsten Morgen um 7 Uhr seine Fahrt nach Vaucouleurs und Domremy.[5] Der Schicksalstag nahm seinen Lauf.

      Fontane bewaffnet

      Ich freute mich sehr auf diesen Ausflug, schreibt Fontane in Kriegsgefangen. Aber er hatte von Anfang an ein ungutes Gefühl. Bereits der Kutscher, ein »Knecht« der Madame Grosjean, flößte ihm wenig Vertrauen ein, am wenigsten als er versicherte: die Partie sei in einem Tag nicht zu machen. Man könne am Abend nicht nach Toul zurückkehren, sondern müsse in Vaucouleurs übernachten. Obwohl Fontane daraufhin ein starker Verdacht durch den Kopf schoss, glaubte er, dieser Person schlimmstenfalls Herr werden zu können: Fontane lud seinen Lefaucheux-Revolver und wickelte ihn derart in seine Reisedecke, dass er durch einen Griff von rechts her, in die muffartige Rolle hinein, den Kolben packen und eine »Gefechtsstellung« einnehmen konnte. Ausdrücklich betont Fontane, dass er den Revolver