Der Politiker, der eine Position zu verlieren hat, lässt Vorsicht walten. Außer wenn die Behauptungen eindeutig unsinnig sind und kein anderes Beweisthema zugelassen zu werden braucht, wird er versuchen, die Angelegenheit durch Vergleich mit der bestmöglichen Ehrenerklärung, die er seinem Angreifer abringen kann, beizulegen und die mit Publizitätsfanfaren angestrengte Klage baldigst und, wenn es geht, lautlos zurückzuziehen. Die sofortige Ankündigung der Klage zeigt seine Unerschrockenheit in dem Augenblick, da man gespannt darauf wartet, wie er reagieren werde, und das kann genügen. Die Ankündigung ist auf dieselbe öffentliche Wirkung berechnet wie die Klage und kann diese Wirkung oft erzielen: Der symbolische Wert des mutigen Appells an die Gerichte darf dann die wirkliche Schlacht im Gerichtssaal ersetzen.
Ein solches Vorgehen kann sich der diffamierte Politiker jedoch nicht immer leisten – oder er glaubt nicht daran, dass er es darauf ankommen lassen könnte. So war Ebert – davon war bereits die Rede – der Meinung, dass er es seinem Amt und seinem Ruf schuldig sei, auf einem Gerichtsverfahren zu bestehen. Ähnlich war es mit Harold Laski. Eine Zeitung hatte in einem Wahlversammlungsbericht geschrieben, Laski habe den Weg der Revolution befürwortet, wenn es der Arbeiterpartei nicht gelänge, ihre Ziele mit Zustimmung der Mehrheit zu verwirklichen. Laski klagte. Später hat Sir Patrick Hastings, der Anwalt der beklagten Zeitung, gesagt, ihm sei nie aufgegangen, warum Laski seine Klage nicht nach dem Wahlkampf von 1945 zurückgezogen habe; das Wahlergebnis zeigte deutlich, dass es den Konservativen auch mit Hilfe der Affäre nicht gelungen war, wesentliche Wahlerfolge zu erringen.115 Auch hier hätte es genügen können, das Symbolische der eingereichten Klage an die Stelle der Durchführung des Verfahrens treten zu lassen. Aber wahrscheinlich hielt es Laski für seine Pflicht gegenüber der Arbeiterpartei, auch nicht den geringsten Zweifel an seinem Bekenntnis zu den Grundregeln der Demokratie bestehen zu lassen. Die Zweifel der Geschworenen vermochte er nicht zu zerstreuen: Sie erklärten den Newark Advertiser, den Laski verklagt hatte, für nicht schuldig.
Dass Laskis Schlappe nicht dieselbe Lawine auslöste wie zwei Jahrzehnte früher Eberts Niederlage in Magdeburg, erklärt sich aus den andersgearteten politischen Zuständen und Traditionen. Es ist zwar denkbar, dass der Ausgang des Prozesses für Laski persönlich ein schwerer Schock war; aber an seiner Möglichkeit, in einem gewissen (auch vorher schon nicht weitgesteckten) Rahmen für die Arbeiterpartei nutzbringend und erfolgreich zu wirken, hatte sich nichts geändert. Wenn Laski als Schreckgespenst der Revolution die Wähler trotz konservativer Propaganda nicht davon hatte abhalten können, für die Arbeiterpartei zu stimmen, so half es auch nicht, dass ein Geschworenenspruch zusätzlich bestätigte, Laski habe sich bedingt für eine revolutionäre Politik ausgesprochen. Dass es zu einer solchen Politik schwerlich kommen könne, bewies vermutlich tagaus, tagein das Labour-Kabinett Attlee in seiner Regierungspraxis.
Ob ein politischer Prozess unter rechtsstaatlichen Voraussetzungen denen, die ihn gewollt haben, politische Gewinne oder Rückschläge bringen muss, ist ebenso unsicher wie Sieg oder Niederlage bei Wahlen. Man kann ein Gerichtsverfahren als Teilaktion im Rahmen eines politischen Feldzugs planen. Als Musterbeispiel einer solchen Parallelschaltung von Justiz und Politik ist oben der Fall Powers angeführt worden. Dass der Angeklagte Powers mit der Republikanischen Partei gleichgesetzt wurde, machte das Gerichtsurteil zu einem Element des Wahlkampfs; Strafverfahren und politischer Kampf ergänzten einander: Prozess und Urteil sollten das gewünschte politische Resultat erbringen, und das politische Resultat, die Wahl eines demokratischen Gouverneurs, sollte die Verwirklichung des gerichtlichen Ergebnisses, die Vollstreckung des Urteils, verbürgen. Demselben Fall Powers ist aber zu entnehmen, dass die Parallelschaltung von Justiz und Politik nur dann Früchte trägt, wenn der Prozess als Ganzes glaubwürdig ist. Der Koordinierung von strafrechtlichem und politischem Vorgehen sind ziemlich feste Grenzen gezogen.
Wiederholt haben kommunistische Kritiker behauptet, dass dieser Parallelschaltung auch in rechtsstaatlichen Ordnungen große Bedeutung zukomme. Außenpolitische Ereignisse – der Krieg in Korea, die Niederlage in Indochina – können ebenso wie innenpolitische Schwierigkeiten des Regimes dazu führen, dass politisch motivierte Strafverfahren eingeleitet werden.116 Da sie von der Praxis ihrer eigenen Partei auf die Praxis anderer schließen, vergessen die kommunistischen Autoren indes nur zu gern, dass Regierungen im rechtsstaatlichen Raum bei der Einleitung von Strafverfahren Beschränkungen unterworfen sind, die unter einem totalitären Regime nicht unbedingt immer gelten. Gewiss legen grundlegende politische Entscheidungen auch verfassungsmäßiger Regierungen zum Teil die Voraussetzungen fest, unter denen die Äußerung und die Propagierung von Meinungen strafrechtlich verfolgt werden können; aber die Entwendung geheimer Dokumente oder die aus politischen Gründen begangene Mordtat muss erst stattgefunden haben, ehe sie ihren Weg durch die Gerichte antritt. Polizeiapparate in der ganzen Welt mögen erfinderisch sein und sich einer »Tue-es-selbst«-Gebrauchsanweisung bedienen, sofern ihnen die Gegner nicht entgegenkommenderweise Vorwände zum Einschreiten liefern.117 Doch kann diese Technik dort nur geringen Nutzen stiften, wo es zuallererst darauf ankommt, dass ein Fall mit Erfolg durch ein Gerichtsverfahren gesteuert werden kann, in dem Zeugenaussagen und sonstige Beweismittel in voller Freiheit geprüft werden dürfen. Unter solchen Umständen verheißt die Parallelschaltung von Justiz und Politik möglicherweise größere Dividenden, als aus der verfügbaren Gewinnmasse ausgeschüttet werden kann.
Wollen die Urheber eines politischen Prozesses die Rechtsform für Zwecke benutzen, die über die Schikanierung oder Ausschaltung eines politischen Gegners hinausgehen, wagen sie sich auf das Gebiet der Schaffung oder Zerstörung von Vorstellungen und Symbolbildern vor, so müssen sie mit Unsicherem und Ungewissem rechnen. Das gewählte Medium des Rechtsverfahrens erweist sich für solche Zwecke als launisch und unberechenbar, weil man hier auf Zeugen bauen muss, die möglicherweise in einer besonderen, eigenen politischen Welt leben, und weil man auch auf Widersacher stoßen kann, denen es womöglich gelingt, Richter oder Geschworene für ihre Interpretation zu gewinnen. Je enger das Beweisthema eingegrenzt wird, umso größer die Wahrscheinlichkeit, dass die Operation gelingt, aber umso geringer die Aussicht, dass dabei mehr herausspringt als die Erledigung politischer Augenblickserfordernisse vergänglicher Art. Auf längere Sicht dürfte der Propagandazwecken dienende Prozess nur paradoxe Wirkungen erzielen. Die inszenierte Sittenparabel wird, nachdem sie den politischen Bedürfnissen des Tages Genüge getan hat, hauptsächlich als Dokument der geistigen Verfassung ihrer Urheber fortleben, und es kann passieren, dass die Nachwelt darin eine viel ärgere Trübung und viel größere Störungen entdecken wird als in der geistigen Verfassung der wehrlos gemachten Opfer.
1 Henry Thomas Cockburn: An Examination of the Trials for Sedition Which Have Hitherto Occurred in Scotland {verfasst 1853}, Band 1, Edinburgh, 1888, S. 68.
2 Offizialverfahren sind an eine Anzahl formaler Voraussetzungen gebunden und müssen durch einen besonderen bürokratischen Bereich, die Anklagebehörde, hindurch; bisweilen, so vor allem in den Vereinigten Staaten, bedarf es zur Anklageerhebung auch noch der Zustimmung eines Geschworenenkollegiums (Grand Jury). Über einige Aspekte dieses Problems siehe weiter unten Kapitel V, Abschnitt 2.
3 Vergleiche Heinrich Mitteis: Politische Prozesse des frühen Mittelalters in Deutschland und Frankreich (Jahrgang 1926/27 der Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse), Heidelberg, 1927.
4 Etwas anders verhält es sich mit denen, die dem totalitären Bereich entrinnen, um Verfolgungen zu entgehen. Aber auch da gibt es Zweifel: Wie muss die drohende oder eingeleitete Strafverfolgung beschaffen sein, damit sie einem Geistlichen in der DDR