Dann erreiche ich die mir unvergessene Stelle, einem unsichtbaren Merkstein gleich, kurz vor dem Gipfel, an der mir, es ist Jahre her, mitten in einem Schritt plötzlich ein Gesicht vor Augen stand. Dieses Gesicht, das ich sah, war dunkel, die Augen Kohlen. Nick Bush. Warum meldete er sich aus meinen Tiefen gerade hier oben auf dem Berg? War er die Antwort auf meine Grübeleien, wer mir, wer uns, mit dem Problem Walt Schumann helfen könnte? Nick war tatsächlich die Antwort. Damals war ich mit einem schweren Rucksack von Fragen nach oben gestiegen und mit leerem Rucksack und einer Antwort, die alles bündelte, wieder abgestiegen.
Mit dem Zug durch Europa
Wir hatten Abitur gemacht, Fabian und ich. Schon wenige Tage später starteten wir unsere Reise. Unser Sponsor war der Baron, nicht Fabians Vater, nein, dessen Vater, der alte Baron.
Unterwegs blieb uns gar keine Zeit zum Besinnen, darüber nachzudenken, was morgen sein würde, geschweige denn was in der gerade eben vorübergeflogenen Vergangenheit geschehen war. Für Fabian und mich zählte zu dieser Zeit allein der Augenblick, im Heute nur diese Stunde, sogar der nächste Abend kam uns am Morgen vor wie ferne Zukunft. Wir waren frei wie die Vögel, verstanden und nahmen das wörtlich.
Beide hatten wir schon unsere Einberufungsschreiben bekommen. In zwei Monaten mussten wir zur Bundeswehr, ich zur Grundausbildung bei der Luftwaffe nach Holland, Fabian beim Heer nach Hessen. Doch erfolgreich schoben wir diesen Termin aus unserem Kopf hinaus, wir dachten einfach nicht mehr daran.
Jetzt waren wir mit dem Zug in Europa unterwegs, kreuz und quer. Amsterdam, London, Paris, Rom, Athen, Barcelona, Madrid. Nach einer Ankunft suchten wir zunächst unsere einfache Unterkunft auf, die wir aus einem Verzeichnis hatten, das Fabians Mutter uns besorgt hatte. Nachdem wir unser nächstes Ziel ausgemacht hatten, meldeten wir uns dort über Telefon an. Erst nachdem wir unser Bett sicher hatten, stromerten wir ohne jegliches Limit durch die jeweilige Stadt, schauten uns satt, saugten das Leben ein, bis ein Atemholen anstand, wir uns wieder in den Zug setzten und der nächsten Metropole entgegenfuhren. Während der Fahrt nutzte ich die kleine Freiheit, um eine Art Schnelltagebuch zu schreiben.
Es war in Lissabon, am Ufer des Tejo, als wir innehielten, den ersten Versuch unternahmen, uns für eine kurze Zeit einzufangen. Es war schon späterer Abend, wir saßen vor einem winzigen Lokal in der Altstadt, hatten einfach, aber gut gegessen, tranken roten Wein, rauchten von den billigen dunklen Zigarillos, da erzählte mir Fabian zum ersten Mal von Sibil. Und es kam mir so vor, als schütte er mit einem Stoß einen bis zum Rand vollen Wassereimer aus. Ich brauchte nur meine Ohren aufzumachen, um seine sprudelnden Wortkaskaden zu empfangen.
Wie eine strahlende Göttin oder hinreißende Märchenfee war die schöne Frau, die fast acht Jahre älter war als er, in seinem Leben erschienen, hatte alles völlig auf den Kopf gestellt. Sein Vater war es gewesen, der durch Vermittlung der Universität die Studentin auf Lehramt verpflichtete, um Fabian doch noch auf Kurs zu bringen, damit das fest eingeplante Abitur nicht wirklich ernsthaft in Gefahr geriet.
Mit zwölf Jahren war Fabian Klassensprecher, mit sechszehn Jahren Schulsprecher geworden. Mit Sicherheit war er der faulste Schülersprecher, den unsere Schule je gehabt hatte oder haben wird. Mit nur etwas weniger Intelligenz, einer weniger schnellen Auffassungsgabe wäre der Schüler Fabian von Fernau längst gescheitert. So bekam er jedes Jahr, wenn auch mit Unterstützung, zum Beispiel auch von mir, gerade noch so die Kurve.
Blick in den Rückspiegel der Zeit:
Die Computerfirma Apple bringt den Macintosh heraus. Die Anschnallpflicht wird Gesetz. Der DDR wird ein Milliardenkredit gewährt.
Die Wahlen zum Klassen- oder Schulsprecher, von der Schulleitung zu Übungsplätzen in praktischer Demokratie erhoben, entwickelten sich zu regelrechten Wettbewerben bereits bei der Kandidatenauswahl. Die eigentlichen Wahlkämpfe wurden mit den Jahren zu einem richtigen, den Schulalltag weit überlagernden Spektakel. Da wir uns vom Fußball kannten, nahm Fabian meine Einflüsterungen beim wilden Wettkampf, bei dem die Worte die Waffen waren, als ganz selbstverständlich.
Damals hatte ich schon das Grundraster meiner geheimen Sammlung entwickelt. In der Siedlung, in der Schule, überall, wo ich mit anderen zusammenkam, erweiterte ich diese Sammlung. Was sammelte ich? Fehler und Schwächen der anderen, vor allem aber Verfehlungen, kleine wie größere. Bei passender Gelegenheit war dieses Wissen von Vorteil, zunächst einmal für mich selbst. Ich war manchmal erstaunt, welch eine große Menge Wissen in diesen Kasten passte, der Gehirn hieß, wie ausgedehnt, weitgefächert meine Sammlung allmählich wurde. Und dass es mir nicht schwerfiel, diese wunden Punkte der anderen zielgenau aus dem Datenspeicher herauszupicken und damit mein Erinnerungsvermögen zu trainieren und zu steuern.
Im zweiten Jahr akzeptierte Fabian meine Einflussnahme so weit, dass er meinen Vorschlägen quasi blind folgte. Das war nicht nur, weil Fabian erkannt hatte, dass ich ihn gut beriet, keiner war, der sich in den Vordergrund schob, also kein möglicher Konkurrent, sondern vor allem, weil ich ihm Arbeit, insbesondere Denkarbeit, abnahm. Er pickte sich die Ideen aus meinem Fundus heraus, die ihm genehm erschienen, machte sie sich zu eigen, und damit waren sie sein Ding. Die Folge: Der größte Faulpelz der Klasse wurde Jahr für Jahr ihr Sprecher, und seit er sechzehn war bis zum Abitur, das er dank Sibil glänzend bestand, auch der Schulsprecher.
Zurück zu Sibil: Sie machte aus dem notorisch faulen Kerl binnen kürzester Zeit einen Musterschüler. Wie, auf welche Art und Weise sie das vollbrachte, hat er nur zart angedeutet. Meiner Fantasie gab das reichlich Zucker. Also: Sibil bestimmte immer mehr sein Leben. Sie gingen zusammen ins Kino, machten Ausflüge mit dem Rad, lagen im Gras an kleinen Seen und schwammen, wanderten in den Bergen. Im Winter gingen sie zum Skifahren. Bald wurde die Berghütte seiner Eltern ihr Refugium für so manches Wochenende. Die Hütte lag lawinensicher unterhalb eines Schutzwaldes, darüber steile Felswände. Von der Terrasse flog der Blick fantastisch weit bis ins Inntal und hinüber zum Wilden und Zahmen Kaiser.
Sibil war Mentorin, Coach, Geliebte und sie nahm die Stelle seiner Mutter ein, die kaum je Zeit für ihre Kinder hatte. Die beiden waren sich gegenseitig völlig verfallen, nicht nur körperlich, sondern auch geistig. Keiner konnte mehr ohne den anderen. Sibil hat mir einmal gesagt, in einem der wenigen wirklich vertraulichen Augenblicke zwischen uns, dass sie vom ersten Blick an wusste: Das ist er! Mit ihm zusammen würde sie einen besonderen Weg gehen können. Wie sich zeigte, hatte sie damit recht, war es richtig gewesen, dem ersten Gefühl zu folgen.
Blick in den Rückspiegel der Zeit:
Die Sowjetunion verlässt Afghanistan. Der Krieg zwischen Iran und Irak endet. Die Tennisspielerin Steffi Graf gewinnt den Golden Slam. Die Niederlande werden Fußball-Europameister. Der Ägypter Nagib Mahfuz erhält den Literaturnobelpreis.
Keine Frage, ihre Vertrautheit und enge Zuneigung musste natürlich nicht nur diskret, zudem auch unbedingt geheim bleiben. Und die beiden brachten das perfekt hin. Sogar ich, einer der wenigen nahen Freunde Fabians, ahnte nur, geschweige denn wusste von ihrer wirklichen Beziehung. Klar war, dass ich natürlich einer von denen war, denen die eigentümliche, kaum nachzuvollziehende Wandlung von Fabian als ein Wunder vorkam, obwohl ich den Grund kannte. Wie gesagt, erst auf unserer Rail-Tour ließ mich Fabian ein wenig hinter den dichten Vorhang blicken. Fabian gehörte zu Sibil, eine Beziehung als Symbiose der Liebe, die bis zum Schluss, bis zum Tod halten sollte.
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