»Hey, Kleines.«
»Autsch. Nettes Veilchen«, bemerkte ich und begutachtete seine linke Gesichtshälfte. Der Fußball hatte einen ordentlichen Treffer knapp unter dem Auge gelandet. Seine Wange schillerte in allen Regenbogenfarben. André zog sich die Schuhe aus, stellte sie feinsäuberlich an die Wand und trottete zur Couch. Ich schloss hinter ihm die Tür, ging in die Küche und holte eine Flasche Wasser.
»Was machen denn die Erbsen hier?«, rief er mir zu.
»Ach, die. Ich wollte gerade anfangen, zu kochen, als du geklingelt hast. Leg sie einfach auf den Tisch.« Ich trat zurück zum Sofa und stellte André ein Glas sowie die Wasserflasche hin.
»Sorry, was anderes hab ich gerade nicht da. Ich war noch nicht einkaufen, seit du weg bist.« Er nahm sich die Flasche und schenkte ein. Ich lief zu meinem Sessel unterm Fenster und ließ mich wie üblich hineinfallen. Fatal. Ich stieß ein leises Fuck aus und schnellte ruckartig hoch. André schaute mich mit großen Augen an.
»Was ist denn mit dir passiert?«, fragte er mich. Ich setzte mich behutsam wieder hin.
»Ach, weißt du, ich hab mich mal ein bisschen in der SM-Szene umgesehen. Also, diese Reitgerten zwiebeln ganz schön auf der Haut.« Meinem Bruder wich die Farbe aus dem Gesicht. Er öffnete seinen Mund, aber nichts kam heraus. »Das war ein Witz. Atmen, André. Ich hab mich verbrannt, weiter nichts.« Es dauerte einen Augenblick, bis er seine Sprache wiederfand.
»Ich weiß nicht genau, was ich irritierender finden soll. Der Gedanke, dass dich jemand mit der Reitgerte bearbeitet, oder die Frage, wie in aller Welt man sich am Arsch verbrennen kann.« Er lächelte. So geschockt schien er offenbar doch nicht zu sein. Sein Blick ging zu den Erbsen hin. Ich nickte, er schmunzelte und warf sie mir herüber. Die Packung war nicht mehr ganz so kalt, aber ich legte sie mir dennoch unter die Pobacke und verspürte etwas Erleichterung.
»Also, großer Bruder, du und Helena?« Ich erwähnte ihren Namen und er begann augenblicklich zu lächeln. Ein gutes Zeichen. »Oh«, rief ich in übertrieben hohem Tonfall und legte mir eine Hand auf die Brust.
»Ja, komm, lass den Scheiß.«
»Und? Wie geht’s jetzt mit euch weiter?« Er zuckte mit den Schultern. Offenbar wussten sie das beide noch nicht so recht. André war sich nicht sicher, ob er wieder bereit sei für eine ernsthafte Beziehung. Aber er sei bereit für sie und was auch immer da noch komme, so meinte er. Erstaunlich locker, wie ich fand. Dieses Arrangement hätte von mir sein können. Besorgniserregend. André war nicht locker. Aber nun ja, ich war die Letzte, die Ratschläge erteilen sollte.
Nachdem André meinen Kühlschrank inspiziert hatte, der natürlich nur gähnende Leere aufwies, schüttelte er tadelnd den Kopf und griff zum Telefon, um beim Chinesen zu bestellen. Während wir mit knurrenden Mägen auf unser Essen warteten, zog ich mir etwas Bequemeres an und André durchforstete mein DVD-Regal. Er entschied sich für True Lies, ein herrlich trashiger Actionfilm mit Arnie in der Hauptrolle, welchen wir schon so oft gesehen hatten, dass wir beinah jeden Dialog mitsprechen konnten.
»Wo bist du eigentlich hin verschwunden?«, fragte André, nachdem er den Boten bezahlt und das Essen auf den Elefantentisch gestellt hatte. Mein exotischer China-Topf mit Spiegelei duftete herrlich und sah auch genauso appetitlich aus. Ich hatte vor einiger Zeit entschieden, mich einmal quer durch die Speisekarte zu futtern, und bisher war ich nicht enttäuscht worden. André hingegen hatte sich wie jedes Mal sein Standardgericht Kung-Pao-Huhn bestellt. Dass ihm das noch nicht zum Hals raushängt …
»Hendrik«, antwortete ich knapp und schnappte mir meine dampfende Styroporschachtel.
»Soll das bedeuten, du wagst jetzt den Sprung und wirst monogam?« Ich verdrehte die Augen, kuschelte mich vorsichtig in meine platt gesessene Kuhle auf der Couch und blickte starr auf den flimmernden Bildschirm.
»Du kannst es nennen, wie du willst«, sagte ich und probierte den ersten Happen meines Eintopfs. Eine gute Wahl.
»Du bist total verknallt, oder?« Ich ignorierte die Frage und versuchte, ernst zu gucken. Was mir keine zwei Sekunden gelang. Ich fühlte, wie sich eine leichte Schamesröte auf meine Wangen legte und ich ein Lächeln nur schwerlich unterdrücken konnte.
»Ach, halt die Klappe«, nuschelte ich und aß unbeirrt weiter, während die heroische Anfangsmusik des Films aus den Lautsprechern donnerte.
»Meine kleine Schwester ist verliebt. Dass ich das noch erleben darf«, trällerte er angetan, lehnte sich entspannt neben mir auf der Couch zurück und machte sich über sein Essen her. Ich ließ seinen Ausruf unkommentiert und versuchte stattdessen, die aufsteigende Hitze der Verlegenheit aus meinem Gesicht zu wedeln. Funktionierte natürlich nicht. Selbst einem völlig Fremden hätte ich in diesem Zustand nichts vormachen können. Ich war bis über beide Ohren verknallt und konnte rein gar nichts dagegen tun, außer es mit stillschweigendem Protest hinzunehmen und es einfach zu genießen. Was auch immer da noch kommen würde.
***
Am nächsten Morgen musste ich wegen meiner Schicht sehr früh raus. Gott sei Dank nur eine Woche lang. Um halb vier klingelte der Wecker, folglich stand ich um halb fünf auf, machte mich im Eilverfahren fertig und hechtete los. Ich holte mir am Bahnhof einen Kaffee, schaffte erstaunlicherweise zeitig meine Bahn, ohne auf den letzten Metern noch einen Sprint hinlegen zu müssen, und konnte noch etwas die Augen schließen. Meinen Anschlussbus würde ich ohne Probleme erwischen. Ich trank meinen Kaffee aus und lehnte mich entspannt an der Fensterscheibe an. Wir hatten eine Mörderwoche vor uns. Mitte Juni. Eine große Taufgesellschaft und eine Firmenfeier standen fürs Wochenende an. Unter der Woche würde es nicht weniger anstrengend werden. Geburtstagsfeiern, volles Reservierungsbuch und die Oldtimer-Ausstellung standen bevor. Aber das kam mir sehr gelegen. Ich mag es lieber, wenn man fast in Arbeit ertrinkt, als dass man sich aus Langeweile die Beine in den Bauch steht.
Ich stieg an der Bushaltestelle am Kirchplatz aus und wanderte über den dicht bewucherten Schleichweg zum Gutshof. Der Tau lag noch auf den Gräsern und benetzte die Spitzen meiner Turnschuhe dezent mit Feuchtigkeit. Die Luft war klar und eine angenehm beruhigende Geräuschlosigkeit umgab mich. Nur meine leisen, schlurfenden Schritte durchbrachen die Stille. Die Wetterfee schien heute in Spendierlaune zu sein. Es war der erste Tag in diesem Jahr, an dem ich bereits morgens keine Jacke mehr brauchte und mir die schon leicht erwärmte Brise um die Nase wehte. Auch wenn ich um diese Uhrzeit nur schwerlich aus dem Bett kam, waren dies die wenigen Momente, die ich an der Frühschicht schätzte. Diese Ruhe und Gelassenheit, bei der man sich fühlte, als wäre man vollkommen allein auf der Welt.
Als ich den Frühstücksraum betrat, waren die Reinigungskräfte noch fleißig dabei, den dunkelrot gefliesten Fußboden zu wischen. Ich grüßte sie kurz, ging mich dann gemächlich umziehen und schaute nach, wie die Vorbereitungen liefen. Carsten war bereits da und räumte den Servierwagen mit Geschirrstapeln voll, um ihn zum Büfett zu schieben.
»Guten Morgen, Carsten«, sagte ich höflich.
»Herr Allrich. Immer noch.« Richtig. Er will ja gesiezt werden.
»Natürlich, Herr Allrich, entschuldigen Sie. Ist ungewohnt.« Ich schaute beiläufig auf den Dienstplan, während Carsten weiter den Wagen belud. Wir waren heute früh nur zu zweit. Ich seufzte leise und versuchte, ein Gespräch zu beginnen. »Wie war Ihr freier Tag?«, fragte ich und öffnete die Schränke unter der Kasse, um die Tischdecken fürs Büfett hervorzuholen.
»Sehr erholsam, vielen Dank«, antwortete er steif und ging wieder ans Werk. Er war mir noch kein Stück sympathischer geworden. Während wir gemeinsam das Büfett aufbauten, sprachen wir kein einziges Wort. Das war mehr als befremdlich. Ich unterhielt mich eigentlich gern mit den Kollegen. Nun ja, Carsten, Verzeihung, Herr Allrich scheint lieber in stiller Konzentration vor sich hin zu arbeiten. Also ließ ich ihn.
Ich war erleichtert, als Christian zwei Stunden später zum Dienst erschien und ich endlich wieder den Mund aufmachen konnte.
»Gott sei Dank bist du da. Das ist echt unheimlich