5 Überlastung im Pfarramt?
Auch in Deutschland geraten angesichts der beschriebenen Wandlungsprozesse die Kirchen unter Druck. In der Regel reagieren sie darauf mit Regionalisierungsprozessen, um Strukturen zu vereinfachen und (im Normalfall) zu zentralisieren. In diesen Prozessen geraten dann bald die haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiter der Kirchen in den Fokus. Wagner-Rau fragt in ihrem pastoraltheologischen Beitrag bezüglich der Pfarrer: »Wo ist der Punkt erreicht, an dem die Belastungen und Ansprüche über das hinausgehen, was zu leisten ist?«70 Sie macht deutlich, wie schwierig es ist, das Kleinerwerden zu akzeptieren, ohne zu resignieren:
»Anzuerkennen, dass das Maß der vorhandenen Ressourcen und veränderte strukturelle Bedingungen sich auf die Handlungsmöglichkeiten auswirken, hat nichts mit Resignation zu tun. […] Weniger Pfarrerinnen und Pfarrer können in Zukunft auch insgesamt weniger Arbeitszeit zur Verfügung stellen.«71
Auch Karle nimmt wahr, »daß viele Pfarrerinnen und Pfarrer schon nach wenigen Jahren [s. c. im Dienst, BS] über Identitätskrisen und Symptome des ›burnout‹ klagen«.72 Alex/Schlegel halten allerdings fest, dass diese Fragen und Herausforderungen für das Pfarramt »so gut wie nicht aufgearbeitet« sind.73
Untersuchungen zur Berufszufriedenheit von Pfarrern gibt es mehrere, allerdings sind Untersuchungen zur Arbeitsgesundheit kaum anzutreffen.74 Rohnke nimmt für sich in Anspruch die erste »Belastungsanalyse i. S. des § 5 ArbSchG« vorgenommen zu haben.75 Hinsichtlich der Verwendung von Inventaren zur Erfassung des Phänomens »Burnout« gibt es bisher im deutschsprachigen, protestantischen Raum nur zwei Studien.76 Keine dieser Studien beachtet die ländlichen Räume mit ihren spezifischen Herausforderungen gesondert.
Schaut man auf das Thema »ländliche Räume« und »Pfarramt«, sind die empirischen Studien ähnlich dünn gesät. Aspekte des Landes spielen in der Auswertung der Studien zur Berufszufriedenheit im Pfarramt allenfalls bei Becker und bei Magaard/Nethöfel eine Rolle.77 Allerdings müssen die Stadt-Land-Unterscheidungen dieser Studien angesichts der Heterogenität ländlicher Räume als wenig differenziert eingeschätzt werden, so dass nicht sicher ist, was hier mit der Kategorie »Land« erfasst wird.78 Grundsätzlich hält Becker als »Kernergebnis« fest: »Die Pfarrstellen unterliegen nach der empirischen Datenlage regionalen und wahrscheinlich auch lokal-individuellen Begebenheiten.«79 Ob es einen Unterschied aufgrund regionaler Begebenheiten bei Pfarrern gibt und ob diese sich auf Belastungsindikatoren auswirken, soll in unserer Studie überprüft werden.
Als Indizien für eine Mehrbelastung der »ländlichen« Pfarrer lässt sich der für diese Gruppe »typische« Wunsch nach einer »grundsätzlich […] geringere[n] Belastung« im Vergleich zu Pfarrern aus anderen Gebieten deuten.80 In ähnlicher Weise spricht auch die Nutzung von Urlaubstagen und Freizeitausgleich für eine mögliche Mehrbelastung der »ländlichen« Pfarrer bei Magaard/Nethöfel. Nach deren räumlichen Kategorisierungen wird sichtbar, dass Landpfarrer seltener ihren Urlaubsanspruch einlösen oder einen freien Tag pro Woche nehmen – lediglich in der Kategorie »1/2 Arbeitstag pro Woche frei« sind die Landpfarrer vorn.81 Dies lässt auf ein Verhalten schließen, welches hinsichtlich der sog. Work-Life-Balance nicht förderlich ist.
Zusammenfassend heißt das: In der Forschungsliteratur wird eine starke Überlastung der Mitarbeiterschaft behauptet. Die Gründe für die Überlastung werden vor allem in den Strukturanpassungsprozessen gesucht, die in ländlich-peripheren Räumen in besonderem Maße zu finden sind. Bisher gibt es jedoch keine belastbare Forschung, die diese Kombination aus Belastungserkrankungen und ländlich-peripherer Umgebung untersucht. Gleichwohl gibt es Indizien für einen solchen Zusammenhang zwischen Umgebung und Belastung.
6 Zwischenfazit
An dieser Stelle ist festzuhalten, dass eine differenzierte Sicht auf die Verhältnisse in ländlichen Räumen geboten ist. Hier hat sich die praktisch-theologische Forschung auf den Weg gemacht und angesichts des konstanten Dauerthemas der kirchlich-organisationalen Veränderung sollte die raumbezogene Begleitforschung nicht unterschätzt werden. Damit ist auch gesagt, dass wir derzeit weit davon entfernt sind, das Thema »Ländlichkeit« oder Regionenbildung und die Konsequenzen für die Kirche als Ganze erfasst zu haben. Die Deskriptionen der ländlichen Räume haben analytische Funktion, insofern sie über Trends aufklären und wahrscheinliche Entwicklungen abschätzen helfen. Sie bilden darüber hinaus die allgemeine Basis zur Einschätzung von Ressourcen und Problemlagen. Außerdem ermöglichen sie Korrekturen hinsichtlich der dem Kontext gegenüber unangemessenen Strategien.
Derzeit kann man davon ausgehen, dass das Thema »Land« in jedem Individuum Assoziationen auslöst, die mehr Zuschreibung sind als heutige ländliche Wirklichkeit. Dies wurde besonders an den Definitionsschwierigkeiten deutlich und den Wandlungen, die Henkel und Neu seit den 60er Jahren ausmachen. Die größten Problemlagen verbinden sich mit dem Stichwort »Peripherisierung«. Abgelegenheit, Abgehängt-Sein oder -Werden, der Verlust (hoch) qualifizierter und demographisch aktiver Bevölkerungsteile in bestimmten Raumlagen können zwar überall auftreten, jedoch zeigt sich derzeit auch, dass (sehr) periphere, ländliche Räume davon besonders und mehrheitlich betroffen sind. Offensichtlich haben solche Prozesse auch Auswirkung auf die Mentalitäten vor Ort, insofern mehrere Forscher das Phänomen der »Peripherisierung im Kopf« beschreiben.
In praktisch-theologischer Hinsicht ist die Erforschung von Belastung und Umgebung Neuland. Es mag hier und da Hinweise geben, wie sich die Umgebung auf die Arbeitssituation vor Ort auswirkt. Offensichtlich ist es nicht unbegründet, eine besondere Belastung auf dem Land zu vermuten. Eine Prüfung dessen steht allerdings noch aus. Für die Forschung ist das ein interessantes Feld, auf dem neue Zugänge erarbeitet und getestet werden können. Kirchenleitungen werden von dem erarbeiteten Wissen profitieren können, um einerseits Maßnahmen zur Förderung der arbeitsbezogenen Gesundheit gezielt zu erarbeiten und andererseits Kirchenentwicklungsprozesse einzuleiten, die vorhandene Motivationen, Ressourcen und Begrenzungen berücksichtigen.
7 Entwicklung von GIPP I – Erfassung von »Stadt« und »Land«
In unserer Studie »Stadt-Land-Frust?« haben wir »Ländlichkeit« so präzise wie möglich erfasst. Die Erfassung dessen, was bei uns als ländlich gilt, ist mehrdimensional. Im Wesentlichen lassen sich drei Dimensionen ausmachen:
1. Statistische Marker für die äußere Abgrenzung der Ländlichkeit.
2. Subjektives Empfinden von Ländlichkeit.
3. Angaben zur kirchlichen Situation vor Ort (SIT).
Diesen Teil unseres Fragebogens bezeichnen wir als GIPP I.82 Mit GIPP I sind alle Items gemeint, die den Unterschied zwischen Stadt und Land aufklären und bestimmen helfen. Dieses multidimensionale Inventar GIPP I durchlief einige Entwicklungsstufen:
In unseren Pretests verwendeten wir Karten, die wir auf Grundlage der BBSR-Kategorisierungen erstellt hatten.83 Insofern die Befragung in der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers (EVLKA) und der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM) durchgeführt wurde und die Daten des BBSR nur für politische Gemeinden aufbereitet sind, wurden Karten für die jeweiligen Bundesländer des Befragungsgebietes erstellt: Zwei Karten für Niedersachen (Ost und West, damit der Maßstab nicht zu klein wird), je eine Karte für Thüringen, Sachsen-Anhalt, Sachsen und den Ostteil von Brandenburg, da die betreffenden Kirchen in allen diesen Bundesländer gebietsmäßig vertreten sind.84
Jedem Probanden wurden die Karten zu »Ländlichkeit« (Abb. 3) und »Lage« (Abb.