Hemmungslos. Hugo Bettauer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hugo Bettauer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711487730
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andere Bedeutung gehabt hatte, einen ordentlichen Amtscharakter, daß es Beutezüge, Beuteverteilungsstellen und sogar Beuteprämien gegeben. Jetzt hatte er Beute auf eigene Faust gemacht!

      II. Kapitel

      Nun aber essen, essen! Kolo warf dem Kellner einen Zweikronenschein zu, verließ das Café und begab sich zu Hartmann, wo er früher, wenn er in Wien auf Urlaub gewesen war, so gerne gespeist hatte. „Kellner, rasch eine Suppe und dann einen Fisch und dann irgendeinen Braten mit Salat und Kompott, nur rasch, rasch, wenn Sie ein gutes Trinkgeld haben wollen!“ Und er aß langsam mit Beherrschung und trank in kleinen, vorsichtigen Schlücken den Wein und schlürfte mit unendlichem Behagen den Mokka und blies mit sybaritischer Wollust den Rauch der importierten Zigarette vor sich hin, zahlte und ging. Nicht mehr müde und gebeugt und kraftlos, sondern aufrecht, gestählt, voll Leben. Ging mit federnden Schritten den Ring entlang, freute sich unterwegs des Maiengrüns der Ahornbäume und lachte laut auf, wenn er an die vollblütige Dame dachte, der ihr Mittagmahl wesentlich weniger gut geschmeckt haben mochte als ihm.

      Seine Wirtin in der Lederergasse begrüßte ihn mit verlegener Zurückhaltung, die aufrichtiger Freude Platz machte, als ihr Isbaregg frohgelaunt zurief: „Die Rechnung, liebe Frau, ich will meine Schuld begleichen und mich dann ausruhen!“ Und um ihre Neugierde zu befriedigen, erklärte er leichthin: „Endlich habe ich im Kriegsministerium meine rückständigen Gebühren bekommen, nun kann man eine Zeitlang wieder existieren!“

      In seinem Zimmer allein, untersuchte Kolo nochmals die Brieftasche. Aus drei gleichen Visitenkarten konnte er den Namen der getäuschten Frau entnehmen, Selma Rosenzweig, Kommerzialratswitwe. „So sieht sie aus, ganz so!“ Ein Posterlagschein, eine quittierte Rechnung und da in der Ecke ein silbernes Zweikronenstück. Er lächelte: „Silbergeld, das hat man hier lange nicht gesehen, wahrscheinlich als Talisman aufbewahrt. Na, hoffentlich bringt es mir mehr Glück als der geliebten Selma!“ Und er schob die Münze in die Westentasche. Das Papiergeld steckte Kolo in seine eigene Brieftasche, die der Frau Rosenzweig warf er in den Ofen, gab Papier dazu und ließ sie in Asche aufgehen.

      Es wird oft und gerne behauptet, daß dieser oder jener Mensch durch die Schrecken eines Abenteuers, durch gewaltigen Schmerz, durch eine furchtbare seelische Erschütterung ganz plötzlich, über Nacht, grau wurde oder sogar innerhalb einer Stunde weiße Haare bekommen habe. Und es ist ein beliebtes Ausfluchtsmittel für Romanschriftsteller, ihre Helden eine völlige Umwandlung des Charakters erleben zu lassen, als Folge einer bösen Enttäuschung oder argen Kränkung. Beides wird so oft erzählt, daß es allgemein geglaubt wird, und doch wird sich schwerlich jemand melden können, der dergleichen selbst erlebt, erfahren oder wenigstens persönlich beobachtet hat. Und wenn sich auch solche Fälle ereignen, so wird die exakte Untersuchung immer ergeben, daß es sich eigentlich nur um die Beschleunigung eines ohnedies schon wirkenden Prozesses gehandelt hat. Der Mann, der im Urwald, von wilden Bestien bedroht, weiße Haare bekommt, wäre sicher auch ohne dieses Ereignis sehr bald weiß geworden, weil eben sein Haarboden krank war. Und die Frau, die die Untreue des Geliebten bösartig, gemein, schamlos und grausam macht, die war eben nie so sanftmütig und edel, wie es der Schriftsteller glauben machen will, sondern alle die peinlichen Eigenschaften waren längst in ihr, kamen aber nicht zum Ausbruch, weil kein Anlaß dafür vorhanden war, und die Untreue und Kränkung hat sie nicht erzeugt, sondern nur geweckt.

      Auch Kolo Isbaregg, der gestern noch ein tadelloser Ehrenmann gewesen war, hätte den Taschendiebstahl des heutigen Tages sehr gut und gerne mit seiner grausamen Notlage, der Verwirrung und Erschütterung seiner Sinne durch den erlittenen Hunger entschuldigen können, wenn er ein kleiner Dutzendheuchler gewesen wäre. Er hatte aber gar keine Lust, sich vor sich selbst zu entschuldigen, sondern betrachtete seine Handlungsweise als ganz vernünftig und berechtigt, als moralisch sogar, wenn man den Trieb, sich selbst zu erhalten, als normal und zulässig anerkennt.

      Er legte sich auf die mit einem schäbigen, geflickten Teppich bedeckte Chaiselongue, kreuzte die Arme unter dem Kopf und gab sich einer gründlichen Aussprache mit sich selbst hin, die zugleich programmatische Bedeutung hatte.

      Und er spann folgenden Gedanken aus: „Daß alle Moral ein vollständig labiler Begriff ist, haben die Moralpächter der ganzen Welt, die Führer, Lenker und Lehrer der Menschheit am lautesten bewiesen. Plötzlich wurde aus dem Mord eine Tugend, aus dem Diebstahl eine Selbstverständlichkeit, und Brandlegung, Raub, Entführung, Erpressung und Gewalttätigkeit waren ganz ihres verbrecherischen Charakters entkleidet worden und wandelten sich zu lustigen Streichen oder Beweisen von Schneidigkeit und Energie. Die ganze christliche Heilslehre wurde mit einem Schlag beiseite gelegt, ja, jemand, der es wagte, noch weiterhin als Christ leben zu wollen, wurde als Verbrecher gemartert, eingekerkert oder gar aufgehängt. Weil nämlich an Stelle des Christentums der Patriotismus getreten war. Das führte zu einem konstanten Selbstbetrug drolligster Art und wandelte sonst ganz vernünftige Leute in Kretins. Der russische Bauer, der für eine Handvoll Kronen sein Vaterland verriet und uns die Stellungen seiner Landsleute offenbarte, war ein anständiger, braver Kerl, dem man zärtlich die Schulter klopfte. Und wir alle waren von der Bravheit dieses Mannes überzeugt und bereit, den, der an seine Anständigkeit nicht glauben wollte, einen vaterlandslosen Gesellen zu nennen. Der ruthenische Bauer aber, der nach den Gesetzen der Grenzpfähle ein sogenannter Österreicher war, wurde, wenn man erfuhr, daß er eine russische Patrouille geführt, glattweg für einen elenden Schurken erklärt und aufgehängt.

      Die Labilität aller Moralbegriffe wurde aber auch weiterhin und in sehr lustiger Weise erhärtet. Hätte ich am 29. September 1918 in anständiger Gesellschaft erklärt, daß ich den Kaiser Karl für einen charakterlosen Menschen halte und ich mir wegen Istrien nicht einen Fingernagel krümmen lassen wolle, so wäre ich als Lump und ehrloser Geselle betrachtet worden. Hätte ich aber fünfzig Tage später in derselben Gesellschaft erklärt, daß ich kaisertreu bin und bereit, für den Besitz von Cattaro zu sterben, so würde man mich als suspektes Individuum und als Trottel ebenso verachtet haben. Es ist also gar nicht wahr, daß man überhaupt nicht stehlen, morden, Eide brechen darf, sondern es ist das alles eine schöne Tugend, wenn es von irgend jemandem, der sich geschickt in den Vordergrund gestellt hat, erlaubt wird. Nicht Gott, nicht Christus, nicht eine höhere übersinnliche Macht diktiert die Moralbegriffe, sondern einzig und allein die Zweckmäßigkeit der Stunde, vom Standpunkt des Herrn Meier oder Müller betrachtet oder einer Gruppe Meiers oder Müllers.

      Auf diesen Schwindel, auf diesen faulen Handel mit Moral möge nun die große Menschenherde ruhig eingehen; tut es der einzelne nicht, so riskiert er zwar, von den Müllers und Meiers totgeschlagen zu werden, aber er hat gar keine Ursache, sich vor sich selbst zu schämen und Reue zu empfinden. Diese Erkenntnis weist mir den Weg für die Zukunft. Ich werde das Risiko, von den Meiers erschlagen zu werden, nach Tunlichkeit vermeiden, aber sonst nach meinen eigenen Zweckmäßigkeitsbegriffen leben. Ich werde mich nicht mehr durch die alten Ammenmärchen narren lassen, denn ich habe hinter die Kulissen geschaut und weiß jetzt, daß die frommen Biedermannsbärte nur aufgeklebt und die heiligen Mienen geschminkt sind. Man spielt heute Christus und morgen den Judas. Tell und Geßler sind ein und dieselbe Person, und das Weib, das heute das Gretchen spielt, mimt morgen die Salome. Das Publikum wird immer Beifall brüllen, wenn nur gut gespielt wird. Nun, ich werde gut spielen!"

      Der nächste Tag war ein sehr geschäftiger. Kolo kaufte sich einen Sommeranzug, Wäsche, Schuhe, Hut; er wandelte sich aus einem Heimkehrer in einen eleganten Herrn und zog am Nachmittag in die Pension Metropolis am Schwarzenbergplatz, wo er für ein elegantes Zimmer samt Verpflegung den stattlichen Preis für einen Monat voraus erlegte. Es blieb ihm von dem der aufgeregten Kommerzialratswitwe abgenommenen Geld nur mehr eine recht bescheidene Summe, aber ein Monat anständigen Lebens war gesichert und in dieser Zeit konnte manches geschehen.

      III. Kapitel

      Die Pension Metropolis nahm eine ganze Etage des Wohnpalastes auf dem Schwarzenbergplatz ein und war berühmt wegen ihrer guten Küche und der exquisiten Gesellschaft, die sie beherbergte. Jetzt allerdings gehörte die Mehrzahl der Pensionäre zu den Versprengten, zu Leuten, die ihr Heim irgendwo in Galizien, in Ungarn, in Dalmatien oder Bosnien gehabt hatten und nun in Wien die neue Zeit, die Möglichkeit der Rückkehr oder der Gründung eines eigenen Hausstandes abwarteten. Schwere Kriegsgewinner hausten