Die Pferde bogen in die Gerade, die Hälfte von ihnen kam nicht mehr in Betracht. „Feldherr“, „Nationalrat“ und „Hitler“ führten. Nun kamen sie vor die Tribüne und die Aufregung wurde ungeheuer. Der Reiter des „Nationalrat“ riß den Gaul nach vorne, mit riesigen Galoppsprüngen gewann er Raum, „Feldherr“ aber schien an seiner Flanke zu kleben.
Das Glas zitterte in der Hand Mautners. Zwei Sekunden noch und er hatte gesiegt, die Pechserie war gebrochen.
Da plötzlich ein Raunen, das zum Brausen wurde, ein Toben und Heulen der Menschenmassen. Der Reiter des „Nationalrat“ griff zur Peitsche. „Nationalrat“ fiel zurück und wie ein abgeschossener Pfeil flog „Feldherr“ an ihm vorbei durch das Ziel.
Frau Sonja klatschte vergnügt in die Hände und wendete sich zu dem unbeweglich hinter ihr stehenden Mautner:
„Sehen Sie, ich habe Pferdeverstand! Aber warum so blaß, lieber Freund, haben Sie sich anderwärts stark engagiert?“
Mautner lächelte krampfhaft.
„Keine Spur! Nicht der Rede wert, nur der interessante Endkampf hat mich gepackt!“
Gleichzeitig aber griff er in die rechte Westentasche und stellte fest, daß er gerade noch genug Geld besaß, um den Damen beim Büfett eine Erfrischung zu kaufen und später dem Chauffeur Frau Sonjas das übliche Trinkgeld zu geben.
5. Kapitel
Der erste schritt
Abends stand Mautner unschlüssig am Schottentor. Buchstäblich ohne einen Heller in den Taschen. Die Ausflügler stiegen aus den Straßenbahnwagen, lachende, singende, halb und ganz betrunkene Menschen zogen dahin und ihn überkam ein wehes, einsames Gefühl. Das Bewußtsein der Armut, der Verlassenheit schnürte ihm die Kehle zu, ließ ihn erschauern.
„Etwas muß geschehen,“ murmelte er vor sich hin, „irgendwie muß ich zu Geld kommen, ganz gleichgültig auf welche Art.“
Und schon fielen Hemmungen von ihm ab, schon drängten sich Urinstinkte in den Vordergrund, schon wandelte sich der gesittete Mensch in ein reißendes Raubtier, das nach Beute sucht. Er fühlte deutlich, was in ihm vorging, wie sich sein Wesen spaltete, lachte so laut auf, daß sich die Leute nach ihm umsahen.
„Ehrlichkeit, Ehrbarkeit, Achtung der Gesetze — alles Schwindel, von denen erfunden, die so satt sind, daß ihnen Ehrlichkeit am bequemsten und vorteilhaftesten ist. Ich war das alles auch noch vor zwei Stunden mit zwanzig Millionen in der Tasche, jetzt, als Bettler, bin ich bereit, unehrlich und gesetzlos zu sein.“
Mautner gab sich einen Ruck. Brutaler Wille kam über ihn, er schüttelte das Mitleid mit sich selbst, die Wehleidigkeit ab, war bereit, den Kampf aufzunehmen und mit allen Mitteln zu kämpfen, wenn es sein mußte, auch mit solchen, die man verbrecherisch nennt.
Er ging in das Café Herrenhof, in dem er früher immer nach Börsenschluß seinen „Türken“ genommen hatte. Das Sonntagspublikum fehlte an diesem schönen Frühlingsabend, nur die unentwegten Stammgäste, die jungen Leute, die vergeblich zwischen Literatur und Saldakonto schwanken, die berufsmäßigen Bohémiens, die kleinen Mädchen, füllten das Lokal, die innere Unruhe, Unzufriedenheit mit sich selbst, Unklarheit über die eigene Bestimmung, zersplitterte Erotik, vage Sehnsucht nach dem großen Abenteuer nicht im Elternhaus duldet, in dem man kein Verständnis für die Schmerzen einer neuen Jugend hat, diese kleinen Mädchen mit ihrem jeweiligen Flirt, der aus Mangel an Absteigequartieren nicht zum Verhältnis wird.
Und an einem langen Stammtisch, der durch die Verheiratung eines liebenswürdigen Roman-, Lustspiel-, Libretti- und Filmdichters bis auf weiteres sein Oberhaupt verloren hatte, saßen ein paar Schauspieler, ein blasser Rentier, der Leiter eines großen Industrieunternehmens, der ewig jung blieb, weil er abends aus Baumwolle und Garn immer zu den Jungen, noch nicht Arrivierten flüchtete.
Auf ihn ging Mautner zu, erzählte lachend, daß er ein paar Millionen in der Freudenau verloren habe und total abgebrannt sei. Worauf sich ihm der Generaldirektor selbstverständlich zur Verfügung stellte, und Mautner der entgegengehaltenen Brieftasche einen Fünfhunderttausendkronenschein entnahm.
Um zehn Uhr stand er wieder auf der Straße. War todmüde und konnte doch nicht nach Hause gehen. Quälende Unrast ließ ihn das Alleinsein mit sich selbst fürchten. Außerdem graute ihm vor dem morgigen Tag. Vielleicht würde der städtische Kassierer mit der Rechnung für den Stromverbrauch kommen, die Bedienerin Geld verlangen. Nein, er mußte sich heute noch einen größeren Betrag verschaffen, mußte über die Sorgen für die nächsten Tagen hinauskommen, diese Tage, die der Eroberung der Frau Sonja Gordon gewidmet sein sollten. Er versuchte, an Frau Sonja zu denken, aber dachte immer wieder an die liebliche kleine Jutta. Vor der Mutter empfand er ein heimliches Grauen. Irgendwie wirkte sie auf ihn unsympathisch, fühlte er sich ihr nicht gewachsen, ahnte er sexuelle Abgründe, die ihn von ihr trennten. Jutta aber — war sie nicht die Verkörperung seines Ideals in ihrer schlanken, taufrischen Mädchenhaftigkeit? — Und doch — irgendein Geheimnis ruhte hinter diesen scheuen, erschreckten, großen Mädchenaugen, die ihn immer fragend, bittend, nach Erlösung flehend, ansahen.
Frau Sonja aber wäre sichere Rettung gewesen. So unklar, geheimnisvoll, rätselhaft ihre ganze Existenz, ihre Vergangenheit, ihre Art ihm schien, so klar und unzweideutig war ihr Reichtum. Magda Huttwitz tauchte vor seinen Augen auf, schob sich zwischen ihn und Frau Sonja. Er schüttelte sich. Diese Magda schien ihm Symbol des Lasters zu sein, in ihren schimmernden Augen schlummerte entfesseltes Mänatentum, Männerhaß, verirrte Gier.
Der Börsenkrach begann seine verheerende Wirkung auszuüben. Das Tabarin, in das Mautner einen Blick warf, war total leer, auch andere Luxuslokale spärlich besucht. Er brauchte aber Menschen um sich, viele, laute Menschen, die seine Einsamkeit betäuben würden.
In der Weihburgbar fand er den Trubel, den er suchte. Mit Mühe nur ergatterte er einen kleinen Tisch in dem Lokal, in dem die Jazz-Band eben einen Höllenlärm machte und fast alle Gäste tanzten. Hier tanzten allnächtlich die alten und jungen Tanznarren, hier entschied sich das Schicksal schlanker, blasser, schöner Mädchen, die morgen entweder Kokotten werden oder den Rückweg ins bürgerliche Leben finden würden. Hier tobte sich im Tanz gefesselte Erotik aus, hier sah man Burschen, die schon Zuhältern glichen, alte Lebemänner, die nur mit den jüngsten, kleinsten Mädchen tanzen wollten, fette Bürgerfrauen, die den Tanz als Abmagerungskur betrieben, Damen der großen Gesellschaft, die mit ihren Männern gekommen waren, um einen neugierigen Blick in die halbe Welt da unten zu tun und, von der aufpeitschenden Musik gepackt, plötzlich mittanzten.
Mautner saß allein da, vornübergebeugt, lauernd, wie ein Raubtier, das sich zum Sprung anschickt. Er wußte, daß er von hier nicht Weggehen durfte, ohne Beute gefunden zu haben. Das Abendessen im Herrenhof, hier die Bargetränke, die er in rascher Reihenfolge nahm, Garderobe, das Geld für die Musik, er würde um ein Uhr nachts wieder mit leeren Taschen auf der Straße stehen. Das durfte nicht sein, er mußte Geld haben, Geld um jeden Preis. Und alles das, was vor wenigen Tagen noch fern von seiner Welt gelegen war, Diebstahl, Raub, Mord, Einbruch, erschien ihm als erlaubt, selbstverständlich, Verteidigung in furchtbarem Kampf.
Am Tisch nebenan saß eine größere Gesellschaft, Herren und Damen, die tschechisch miteinander sprachen. Ersichtlich Fremde, die Damen geschmacklos und überladen, die Herren klobig und provinziell. Aber sicher reiche Leute, die vielen geleerten Champagnerflaschen, der Schmuck der Damen, das breitspurige Gehaben der Männer ließ das erkennen. Immer, wenn die Jazz-Band zu spielen begann, sprangen die Damen und Herren auf, ließen ihre Täschchen und Zigarettendosen unbeaufsichtigt liegen, warfen sich in den tanzenden Knäuel.
Stumm und lauernd beobachtete Mautner sie. Plötzlich war sein Entschluß gefaßt. Er rief den Kellner herbei, zahlte, blieb aber dann ruhig sitzen. Jetzt schien der günstige Moment gekommen. Der eine der tschechischen Herren winkte in einer Tanzpause einen Musiker herbei, überreichte ihm eine Banknote mit der Aufforderung, „Schön sind die Mädchen aus Prag“ zu spielen. Kaum intonierte die Musik, als die Gesellschaft auch schon lachend