Das Lager hat kein Ende. Es ist so groß wie eine Stadt in der Provinz. Hier sind Amerikaner, Engländer, Franzosen, Russen und Polen. Die Silhouetten der Wachttürme gleichen riesigen Spinnen, die einen Mann mit einem Biss verschlingen können.
Früher hatte Axel volles Haar, inzwischen fällt es in Strähnen aus und rieselt zu Boden. Er erkennt sich selbst nicht wieder, weder äußerlich noch innerlich. Sogar sein Name ist ihm fremd geworden. Axel Skjold ist jetzt nur noch eine Nummer.
Dann ist Weihnachten. Entgegen aller Vernunft feiern sie. In Axel wächst der Hass. Anfangs geschah es nur langsam, wie eine Pflanze, die gedeiht, aber heute flammt er ungezügelt auf. Er sollte nicht hier sein. Er sollte zu Hause sein, bei Kamma. Das hatte er ihr versprochen, als sie geheiratet haben. Dass er immer an ihrer Seite sein wird. Wie sie wohl den Weihnachtsabend feiert? Weint sie? Hält sie das Kleine auf dem Schoß und weint?
Er versucht, sich die Gedanken an Kamma aus dem Kopf zu schlagen und stellt sich in der Reihe für die Essensausgabe an. Mit einer Schale dünner Suppe, in der ein paar Rübenblätter schwimmen, geht er zu Erik. Sein Freund sieht ihn mit verzweifeltem und finsterem Blick an, richtet sich in seiner Koje auf, bricht aber sofort wieder zusammen, als sei sein Rückgrat in Stücke zerbrochen. Er hat keine Kraft mehr und ist dabei, sich der Unvorhersehbarkeit des Grauens zu ergeben. Er kommt nur noch aus seiner Koje, wenn sie ihn dazu zwingen. Früher war er stark wie ein Ochse oder ein störrischer Packesel. Jetzt sieht es so aus, als würde er allmählich verfaulen.
Axel setzt sich zu ihm und spricht mit der Stimme, die er wohl auch benutzen würde, sollte er jemals die Chance bekommen, mit seinem Kind zu sprechen. „Hier gibt es nur zwei Arten von Männern. Die, die aufgegeben haben, und die, die noch Hoffnung haben zu überleben. Die einen sind schon tot, die anderen haben wenigstens eine Chance. Du darfst nicht aufgeben.“
Erik sieht ihn mit einem entschuldigenden Blick an. Die Suppe, mit der Axel ihn zu füttern versucht, läuft über sein Kinn, ohne dass er es merkt.
Jeden Tag verlassen sie das Lager und schlurfen müde in einer langen Kolonne zur Elbe. Es ist Schnee gefallen und die Kälte arbeitet sich durch ihre Kleidung.
Ein Stück vom Flussufer entfernt stehen die Kipploren. Mühsam schaufeln die Gefangenen Schlacke, Schotter und Sand hinein. Sie arbeiten zu langsam und Schläge prasseln auf sie ein. Die Wachen sind noch nicht erwachsen, wohl nicht mal zwanzig Jahre alt, aber ihre gut genährten Körper haben Kraft und die Totenköpfe an den Schirmmützen verleihen ihnen Macht. Ihre Gesichter bleiben für Axel verschwommen. Er will sie auch nicht sehen, sie können nicht menschlich sein.
Selten treffen die Schläge ihn, aber der Körper braucht keine Schläge, um übel zugerichtet zu werden. Der Gedanke daran kann schon genug sein.
Axel arbeitet hart. Keinen Blickkontakt und ein konstanter Rhythmus. Als die Lore voll ist, drücken sie mit ihren verfrorenen Händen gegen das kalte Metall, um sie die Schienen entlang zu schieben. Sie ist schwer, die Räder sind verrostet und der Schnee hat den Boden in Schlamm verwandelt. Die Lore rührt sich erst, als Robert die Schulter dagegen stemmt. Erik geht ganz außen neben Axel. Sein Husten verleiht seinen Wangen ein wenig Farbe. Ihr Atem bildet eine kleine Wolke über der Lore. Unten am Fluss kippen sie sie aus, schieben sie zurück, beladen sie erneut und ducken sich unter den Stockschlägen.
Axel versucht, Wärme in die geballten Fäuste zu pusten. Dann wieder die Schienen entlang hinunter zum Fluss. Die Männer keuchen, die Lore bewegt sich ruckartig. Erik rutscht aus. Auf einmal ist er weg, geht nicht mehr neben Axel her. Ein grässliches Knirschen lässt alle innehalten.
Eriks Bein liegt unter der Lore auf den Schienen. Die Hose ist zerrissen und das Bein unterhalb des Knies zermalmt. Entsetzt starrt er es an. Der Mund ist aufgerissen, aber er kann nicht schreien. Axel will ihm hoch helfen, ist aber wie gelähmt. Etwas läuft ihm über den Rücken, kalt und klamm wie ein Tropfen. Eine Weile steht er nur da und sieht hinunter auf seinen Freund, bis eine Peitsche ihren Abdruck auf seinem Rücken hinterlässt.
Am Abend gehen Axel und Robert zurück ins Lager. Sie tragen Erik zwischen sich. Immer wieder verliert der Freund das Bewusstsein, wacht wieder auf. Sollte Axel irgendwann Gelegenheit haben, seine Erlebnisse zu beschreiben, er könnte es nicht. Nie hat er über den Tod nachgedacht und ihn deshalb auch nie gefürchtet. Bis jetzt nicht.
Geistesabwesend betrachtet der Lagerarzt Eriks Bein. Dann breitet er die Arme aus, schüttelt den Kopf und zündet sich eine Zigarette an.
Von der Tür zum Krankenrevier aus sieht Axel hinüber zu seinem Freund. In Eriks Augen stehen Tränen, der Stumpf seines Beins zuckt, als habe er seinen eigenen Willen. Wie ein zurückgelassenes Kind wird er auf ein Bett gelegt. Das Bein ist von Schorf bedeckt und mit Blasen übersät. Die Kälte kriecht durch die Wände und gesellt sich zu ihm ins Bett. Er zittert. Jemand schließt die Tür, Axel kann ihn nicht mehr sehen, und am nächsten Tag ist Erik tot.
Gerüchte machen die Runde, angeblich sollen sie nach Leipzig transportiert werden. Es heißt, diejenigen, die die Deutschen dorthin schicken, dürfen nach Hause gehen, wenn die Arbeit dort erledigt ist. Alle wollen dazugehören. Axel will dazugehören. Er muss nach Hause.
Die Gefangenen sind vollzählig auf dem Appellplatz angetreten. Wie gewöhnlich genießen die SS-Wachen ihre Macht, prügeln wahllos auf Männer ein, weil sie es können. Dann werden die Glücklichen auserwählt. Die Nervosität läuft wie ein Windstoß durch die Reihen. Ausgewählt zu werden bedeutet das Leben, hier zu bleiben wohl den Tod.
Mit Listen in den Händen laufen die Wachen zwischen den Gefangenen herum. Brüllen Namen, zählen, brüllen mehr Namen. Axel hält den Atem an. Roberts Name ist dabei, Eriks ebenso, aber seiner nicht. Niemand hat ihnen gesagt, dass Erik tot ist.
Als alle aufgerufen sind, spürt Axel den aufkommenden Zusammenbruch. Die Reihen lösen sich auf, aber er bleibt stehen. Paralysiert von seinem Unglück. Er ist wütend auf sich selbst. Wie konnte er nur so dumm sein, zu hoffen. Ein Soldat steht nicht weit entfernt, und Axel rafft seinen Mut zusammen. Nach und nach hat er sich ein paar Brocken Deutsch angeeignet, und er hat nichts zu verlieren.
Er wendet sich an den Soldaten. „Erik Rømer ist tot.“
„Was?“
„Erik Rømer ist tot.“
Der Mann blättert in einer Liste.
Axel zeigt auf den Namen. „Er ist tot.“
„Geh jetzt! Warte, dein Name?“ Er schreibt Axels Namen auf die Liste.
In der Baracke packen sie ihre wenigen Habseligkeiten. Die Zurückgelassenen stehen da und sehen ihnen zu, wie Wrackteile, Verzweiflung im Blick. Einige heulen.
Sie klettern in die Waggons, klammern sich an ihre Rot-Kreuz-Pakete. Sie haben fast keine Kraft mehr, sich zu freuen, aber jetzt müssen sie nur die Arbeit überstehen, dann können sie nach Hause und alles hinter sich lassen.
Leipzig ist von zahlreichen Bombenangriffen gezeichnet. Alles ist mit grauer Asche bedeckt. Die soliden Bahngleise zeugen von der Kraft, der sie ausgesetzt waren. Sie sind verbogen und unbrauchbar. Das ist der Grund dafür, dass die Gefangenen hierher geschickt wurden: Sie sollen neue Schienen verlegen.
Zuerst werden sie in zwei Gruppen aufgeteilt. Jede Gruppe soll in Zwölf-Stunden-Schichten die Schäden beseitigen, so kann rund um die Uhr gearbeitet werden. Axel wird der Nachtschicht zugeordnet.
Die Arbeit ist anstrengend und mühselig, und während der ersten Tage schneit es. Die Kälte schneidet Axel durch Mark und Bein. Er hat kein Fett mehr am Körper, nichts, um sich gegen den Winter zu schützen. Niedergeschlagen blickt er auf seine Schuhe. Sie sind so gut wie verschlissen, und wenn sie zerfallen, wird er erfrieren. Es sei denn, ein anderer