Sie ist ausgezogen, sie hat uns beide verlassen! Mehr konnte er zuerst nicht denken.
Eine Inspektion ihres Kleiderschrankes bestätigte diese Vermutung. Der Schrank war nämlich leer, ihr Schreibtisch ebenfalls. Auf letzterem lag ein einfacher weißer Briefumschlag, auf dem lediglich sein Name stand.
Er öffnete ihn mit zitternden Händen und las dann:
Lieber Henrik,
ich kann so nicht weiterleben, so zwischen Babygeschrei, Haushaltskram und Kleinstadtmief. Durch Papas Vermittlung habe ich eine prima Stellung in München bekommen und kann diese sofort antreten. Mir ist auch klar geworden, dass wir beide auf Dauer nicht zueinanderpassen. Deshalb bitte ich Dich, in die Scheidung einzuwilligen. Lass uns als Freunde auseinandergehen. Die Kleine überlasse ich Dir, das heißt, du bekommst das alleinige Sorgerecht. Und ich werde selbstverständlich die Alimente zahlen; ich habe mich bereits beim Jugendamt erkundigt und werde dorthin so bald wie möglich eine Verdienstbescheinigung schicken. Dort wird man dich auch beraten und unterstützen. Das hat man mir zugesagt. Ich werde Euch natürlich besuchen, wenn es meine Zeit erlaubt.
Alles Gute für Dich und Irene von Evelin.
P.S. Du wirst bald ein Schreiben von meinem Anwalt bekommen.
So sah also das Ende seiner Ehe aus. Henrik legte den Brief mit zitternder Hand wieder auf den Schreibtisch und setzte sich auf den Stuhl, der davorstand. Den Kopf verzweifelt in beide Hände stützend saß er lange da und wusste zuerst einmal nicht, wie es mit ihm und dem Kind weitergehen sollte.
Seine Frau hatte ihn verlassen, ohne mit ihm über ihre Absichten zu reden, ohne an das Kind zu denken. Aber so war sie eben! Oder so war sie im Laufe der letzten Jahre geworden. Früher hatte er über ihre spontanen Einfälle meist gelacht, das hier war jedoch nicht zum Lachen. Es war eine Tragödie.
Nach einer fast schlaflosen Nacht gestand er sich ein, die Augen vor der Wirklichkeit verschlossen zu haben. Evelin würde nie eine liebevolle Mutter werden, wie er insgeheim doch noch gehofft hatte, auch im Laufe der nächsten Jahre nicht. Ihm blieb jetzt nur noch übrig, sich so schnell wie möglich auf die neue Situation einzustellen. Aber wie?
Einen Kita-Platz bekam er erst zum nächsten Jahr, die bezahlte Freistellung von der Arbeit, die sogenannte Vaterzeit erst ab Oktober. Also noch mehr als fünf Monate, für die er niemanden hatte, der sich um Reni kümmerte. Aber er musste jetzt eine Lösung finden und zwar unverzüglich.
Nun, vielleicht konnte er zunächst ein oder zwei Wochen Urlaub bekommen. Und in dieser Zeit musste es ihm gelingen, für Reni eine private Pflegerin zu engagieren oder eine geeignete Tagesmutter zu finden.
Er wusste zwar nicht, wie er diese bezahlen sollte. Aber es gab ja bekanntlich für alles eine Antwort. Und wo ein Wille war, da war auch ein Weg.
Sein Arbeitgeber war verständnisvoller, als er geglaubt hatte. Er gewährte ihm Urlaub und war sogar damit einverstanden, dass er danach seine ohnehin geplante Freistellung schon jetzt in Anspruch nahm. Damit war zumindest für die nächsten drei Monate das Kind gut versorgt, und er hatte wesentlich mehr Zeit, eine geeignete Tagesmutter zu finden.
Und so begann für Henrik Hollstein eine schwere, aber nicht direkt unglückliche Zeit, auch wenn sein monatliches Einkommen schmal war und er auf vieles verzichten musste.
Die kleine Reni bemerkte das Fehlen ihrer Mutter nicht. Sie war genauso zufrieden wie zuvor, denn sie hatte ja ihren Papa. Und manchmal auch die Uroma, die trotz ihres fortgeschrittenen Alters den beiden half, so gut sie es eben noch vermochte. Sie kaufte Anziehsachen und Windeln und lud die beiden mitunter zum Essen ein. Diese Unterstützung war auch bitter nötig.
Renis Mutter schien nämlich vollkommen vergessen zu haben, dass sie den Unterhalt für ihr Kind zu zahlen hatte. Sie war telefonisch auch nur selten zu erreichen. Und wenn es Henrik doch mal gelang, dann versprach sie zwar hoch und heilig, ihren Verpflichtungen umgehend nachzukommen, tat es aber nicht. Anrufe bei ihren Eltern waren ebenfalls zwecklos. Die beiden gaben vor, sich nicht in die Angelegenheiten ihrer Tochter mischen zu wollen. Und so blieb Henrik nichts anderes übrig, als diesen Tatbestand dem Jugendamt mitzuteilen. Ob die Damen und Herren dieser Behörde mehr Erfolg zu verzeichnen haben würden, war allerdings fraglich.
So vergingen die nächsten Monate, in denen Evelin schließlich eher unfreiwillig und auch nicht pünktlich die Alimente zahlte. Nach ihrem Kind fragte sie jedoch nur selten.
*
Mehr als drei Jahre hatte Gitta Wenzel ihren nach einem Sportunfall gehbehinderten Freund gepflegt, hatte für ihn gesorgt, hatte ihn zu den entsprechenden Ärzten und Therapeuten gefahren, hatte ihre Freizeit, ihren Urlaub und viel Geld geopfert, ihm immer wieder Mut gemacht und hatte mit ihm gelitten und sich über den kleinsten Erfolg mit ihm gefreut.
Inzwischen war Reinhard Wagner so gut wie gesund – und hatte bei seinem letzten Kuraufenthalt eine andere Frau kennengelernt. Und diese Frau wollte er heiraten. Und sie, Gitta, war ihm wohl nicht mehr gut genug und hübsch genug. Und damit vollkommen überflüssig! Sie hatte so schnell wie möglich aus seiner Wohnung auszuziehen und aus seinem Leben zu verschwinden. So einfach war das.
Nein, es war gar nicht einfach. Es war beinahe eine Katastrophe! Sie hatte nämlich selbst so gut wie nichts, was Möbel und Hausrat anbelangte, weil sie damals bei ihm in eine komplett eingerichtete Wohnung gezogen war. Sie hatte auch nur wenig sparen können, da sie die Miete zur Hälfte getragen und ihn während seiner langen Krankheit finanziell unterstützt hatte.
Doch das interessierte den in eine andere leidenschaftlich verliebten Reinhard nicht.
Er sah daher emotionslos zu, wie sie ihre bescheidene Habe in drei große Koffer packte und anschließend seine Wohnung verließ.
Nachdem ihre Freundin Elsie sie zwei Wochen bei sich aufgenommen hatte, war es möglich, eine billige Wohnung zu mieten, zwei kleine Zimmer, ein winziges Bad und eine ebenso winzige Küche. Und das alles auf einem Hinterhof mit Blick auf die Mülltonnen. Aber so war sie zumindest nicht obdachlos. Bett, Schrank, Tisch und Stühle kaufte sie sich in einem Billigladen, ihre Eltern spendierten eine Waschmaschine und die Oma einen kleinen Kühlschrank. Ihr Vater und ihr älterer Bruder klebten Tapeten und schlossen die Haushaltsgeräte an.
Damit war der Anfang gemacht, ein sehr bescheidener Anfang. Aber Gitta genügte er. Mit diesem fand sie sich ab, nicht aber mit der Tatsache, von Reinhard Wagner jahrelang ausgenutzt und dann kaltlächelnd abgeschoben worden zu sein. Von nun an vergrub sie sich in ihre Arbeit als Steuerfachangestellte und sparte, wo sie nur konnte, auch am Essen. Sie hatte ja ohnehin kaum noch Appetit, seitdem sie ihren Lebensinhalt verloren hatte.
Sie hoffte jedoch, diesen ›Lebensinhalt‹ nie wiederzusehen. Die Chancen dafür waren gut, denn seine angehende Ehefrau oder sein Kurschatten hatte ihm eine Stellung in Hamburg vermittelt, was einen baldigen Umzug erforderlich machte.
Als Gitta durch eine Bekannte davon erfuhr, war sie mehr als erleichtert. So brauchte sie nicht mehr zu befürchten, ihm zufällig zu begegnen – und sein selbstgefälliges Lächeln zu sehen.
*
Henrik Hollstein hatte ebenfalls erleichtert aufgeatmet, als er ganz überraschend bereits ab Oktober einen Platz für Reni in einer nahegelegenen Tagesstätte bekam. Er war ja sozusagen auch ein sehr dringender Fall. Mit viel Geduld und Einfühlungsvermögen hatte er die Kleine inzwischen daran gewöhnt, dass sie ihren Vater einige Stunden nicht sehen konnte. Dafür war die Freude am Abend umso größer. Und an den Wochenenden sowieso.
An diesem Samstag hatten sie zuerst die Oma besucht, hatten dort zu Mittag gegessen – Schweinebraten mit Rotkohl und Kartoffeln, und für Reni Milchreis mit Kompott. Danach hatten die Kleine und die Oma ihren Mittagsschlaf gehalten, während Henrik zum Supermarkt gefahren war und eingekauft hatte.
Gegen 17 Uhr kamen sie wieder zu