Apostolischer Dienst im Nebel
Ein evangelischer Pastor schrieb mir vor kurzem: »In unserem Kirchenkontext ist der apostolische Dienst nicht nur vernebelt, sondern regelrecht vermint.« Über dem Dienst des Apostels liegt ein nebliger Schleier, eine Art Tabu. Viele halten ihn für eine historisch begrenzte und heute nicht mehr relevante Erscheinung. Der Dienst eines Apostels ist im wahrsten Sinne des Wortes schleierhaft.
»Wenn irgendjemand in unserer heutigen Zeit den Titel ›Apostel‹ für sich beansprucht, zieht er im selben Moment den Verdacht auf sich, von unangemessenem Stolz und dem Wunsch nach eigener Anerkennung angetrieben zu sein und von einem übereifrigen Ehrgeiz und dem Wunsch nach deutlich mehr Autorität in der Gemeinde erfasst zu sein, als eine Person rechtens besitzen sollte.«2
Unter der Bezeichnung Apostel oder apostolischer Dienst hat sich in den letzten Jahrzehnten manches Skurrile gesammelt. Der über Jahrhunderte fast in Vergessenheit geratene apostolische Dienst wurde nun überhöht und seine Wiederentdeckung, beispielsweise als Schlüssel großer Erweckungen oder besonderer Autorität und Machtfülle, dargestellt.3 Es gab immer wieder den Anschein, es gehe beim Dienst des Apostels mehr um Macht und Ansehen, als um ein segensreiches Wirken für Kirche und Welt. Auch aus der frühen Kirchengeschichte haben wir Hypotheken, die uns den Blick für einen apostolischen Dienst trüben. Zum Einen wurde mancherorts zwischen der besonderen apostolischen Berufung, wie sie die zwölf von Jesus eingesetzten Apostel besaßen, und dem folgenden apostolischen Dienst des Neuen Testamentes eine scharfe Trennlinie gezogen. Dies führte zu der Ansicht, der apostolische Dienst hätte mit den zwölf Aposteln aufgehört zu existieren. Zum Anderen führte die Vorstellung einer apostolischen Sukzession (Nachfolge) zu umfangreichen Kontroversen. Ab dem 16. Jahrhundert entwickelte sich dann noch die Lehre, dass der Dienst von Aposteln ausschließlich für das Zeitalter des Neuen Testamentes bestimmt gewesen sei. Derartige Denkweisen, Kontroversen und Lehren umhüllen den apostolischen Dienst mit zusätzlichen Nebelschwaden.
Freilich gab es in der jüngeren Kirchengeschichte immer wieder Ansätze, das apostolische Mandat neu aufzunehmen. Man denke nur an die apostolischen Gemeinschaften und Kirchen, die Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden sind. Die theologische Diskussion und Auseinandersetzung wurde aufgrund des kirchengeschichtlich verdrehten Verständnisses erst in letzter Zeit aufgenommen. Die evangelischen Kirchen, Freikirchen und charismatisch-pfingstlichen Gemeinden orientierten sich eher an einem Leitungsprofil, welches sich auf das Lehramt und das seelsorgerliche Hirtenamt (Pastor) konzentrierte und allenfalls noch von Evangelisten oder auch ansatzweise von Propheten sprach. Das Apostelamt blieb auf die ersten zwölf Apostel beschränkt oder wurde höchstens noch als ein überregionaler Leitungsdienst charakterisiert. Dieses Buch durchbricht diese protestantisch gebotene Zurückhaltung und greift das Thema entschlossen auf. Hier sollen nicht Einzelfragen und detaillierte Auseinandersetzungen um kirchengeschichtliche Entwicklungen beziehungsweise Fehlentwicklungen skizziert werden, sondern Ursprung, Wesen und Wirksamkeit der apostolischen Gabe.
Dunstwolke: Wortverwirrung
Wir benötigen eine zuverlässige Grundlage, die uns vor Extremen bewahrt, diesen Dienst aus Unkenntnis heraus abzulehnen, ihn institutionell zu okkupieren oder mit einer übertriebenen Autorität zu überhöhen. Es wäre fatal, aufgrund irreführender Vorstellungen über den apostolischen Dienst, den Segen echten apostolischen Wirkens zu verleugnen oder diesen durch den Begriff Missionar zu relativieren. Apostel kann mit Gesandter oder dem lateinischen Begriff Missionar wiedergegeben werden. Dies darf aber nicht dazu führen, den Missionar mit dem Apostel gleichzusetzen. Wenn jemand als Missionar beispielsweise in ein Entwicklungsland geht, um dort Hilfsdienste zu leisten, ist das sehr wertvoll, aber nicht zwangsläufig ein apostolischer Dienst. Dies ist nicht wertend zu verstehen. Vielmehr geht es darum, unterschiedliche Dienste nicht mit der gleichen Begrifflichkeit zu benennen. Ein Missionar kann, muss aber nicht ein Apostel sein. Auch Hirten, Lehrer, Propheten oder Evangelisten sind Missionare. Jeder Christ ist ein Missionar, da jeder Christ dazu berufen ist, das Evangelium in die Welt zu tragen (Mt 28,18ff). Die katholische Kirche spricht hier von einem sogenannten Laienapostolat, was diesen allgemeinen, allen Christen geltenden Missionsauftrag, nicht aber einen biblisch apostolischen Dienst meint.4 Den Apostel als Missionar zu bezeichnen, beschreibt die Gabe des Apostels nur unzureichend und hüllt seine Gabe weiterhin in eine Dunstwolke. Es lohnt sich, hier genauer hinzusehen.
Aus den Nebelbänken treten
Einen der wichtigsten Wegweiser, der uns aus den Nebelbänken rund um den apostolischen Dienst ins Licht führt, finden wir in einer bedeutsamen Anweisung des auferstandenen Jesus an seine Gemeinde. Die Himmelfahrt Jesu markiert den Anfang seiner Herrschaft zur Rechten des Vaters. Von dieser erhobenen Position aus setzt Christus nach seiner Auferstehung zum Bau seiner Gemeinde fünf Zurüstungsgaben ein, zu welchen auch die Gabe des Apostels gehört: »Und er hat einige als Apostel eingesetzt, einige als Propheten, einige als Evangelisten, einige als Hirten und Lehrer« (Eph 4,11). Wer hat gesetzt? Er, der Auferstandene! Es war Gottes Initiative und Idee. Es handelt sich hier nicht um einen pfingstlerisch-charismatischen Gedankenentwurf, sondern um die Setzung und Anweisung des Auferstandenen. Ein maßgeblicher Teil der Strategie Gottes zum Bau seiner Gemeinde und Manifestation seiner Königsherrschaft in der Welt.5
Während der Dienst des Hirten und Lehrers in der Gemeindepraxis breite Akzeptanz gefunden hat, finden wir in den meisten Gemeinden in Bezug auf die Bedeutung des apostolischen Dienstes ein lückenhaftes und geringes Verständnis vor. Der apostolische wie auch fünffältige Dienst spielt im Leben der meisten Christen und Gemeinden kaum eine Rolle. So werden Personen mit einem apostolischen Gabenspektrum als Prediger, Evangelisten, Lehrer oder Missionare bezeichnet, selten aber als Apostel. Darüber hinaus sprechen wir von einer Fülle von Positionen und Titeln, die man im Neuen Testament so nicht findet: Prälat, Dekan, Gemeindeleiter, Senior-Pastor, Kardinal, Superintendent oder Papst. Die Rolle der Apostel wurde durch andere Dienste ersetzt, die dann, aber mit apostolischen Aufgaben überfordert sind. Echte Apostel können durch nichts anderes ersetzt werden. Wo sie fehlen, fehlt nicht weniger als der genetische Code, das innere Skelett. Bei Propheten, Evangelisten, Hirten und Lehrern ist bereits der Name Programm. Der Prophet prophezeit, der Evangelist evangelisiert, der Hirte weidet, der Lehrer lehrt. Und der Apostel? Er fällt hier aus der Reihe. Apostel ist keine Bezeichnung, die sich uns auf Anhieb schon vom Begriff her selbst erklärt. Was haben wir uns unter dem Dienst des Apostels vorzustellen?
Weckruf zur Sonne
Dieses Buch ist ein »Weckruf zur Sonne«, die von Gott überreichten Geschenke anzunehmen, auszupacken und zum Einsatz zu bringen. Wir brauchen in den Gemeinden eine neue Kultur der Leiterschaft, welche geistliches Leben ermöglicht und nicht verhindert; Menschen nicht mit unwirksamen Aktivitäten beschäftigen, sondern sie fördert, ihre von Gott gegebene Berufung zu entwickeln; Leiter, die nicht fragen: »Wie kann ich dich für meine Vision nutzen?«, sondern die fragen »Wie kann ich dir nutzen, mit dem, was Gott dir anvertraut hat?« Es ist lieblos, Menschen zu führen ohne zu wissen, was Gott ihnen anvertraut hat. Diese wichtige Art von Führung entfaltet sich im apostolischen Dienst. Wobei der Apostel nicht als der zentrale Leiter aller Dinge zu verstehen ist. Die Letztverantwortung einer Kirchengemeinde liegt beispielsweise in der Hand der jeweiligen Gemeindeleitung (Ältestenschaft). Dies schließt nicht aus, dass ein Apostel auch Teil der Gemeindeleitung oder Ältester sein kann. Wenn wir in das Neue Testament hineinschauen, sehen wir, dass Apostel zu dem ganz normalen Bestandteil eines jeden Gemeindeleitungsteams gehören.
Dieses Buch ist kein Ruf nach einem starken Mann oder einer starken Frau, der/die alles richten wird. Vielmehr geht es um das Finden, Fördern und Freisetzen von Gott geschenkter Gaben, die unter uns und auch in Ihnen schlummern. Jesus nannte seine ersten Führungskräfte Apostel. Erstaunliches ist durch sie in Gang gekommen. In diesem Buch geht es um das, was Gott uns zeitlos in außergewöhnlicher Weise für die gesunde Führung und Leitung im 21. Jahrhundert zu sagen hat. Lassen Sie ausgetretene Pfade und zeitgeistige Management-Gurus hinter sich und entdecken Sie die von Gott geschenkte Wirksamkeit des apostolischen wie auch fünffältigen Dienstes. Wenn Gott sagt: »Das braucht ihr!«, dann brauchen wir es.
Die Schwäche der