Erling, der das wußte, kam seinem Freunde zu Hilfe. «Ja», sagte er, «da hast du vollkommen recht. Immer wieder bist du über Spuren gestolpert, ohne sie zu sehen, und hättest du mich – deinen alten, stets zuverlässigen Freund Erling Krag – nicht bei dir gehabt, dann wäre es um den Sieg der Gerechtigkeit schlecht bestellt gewesen!»
Der Inspektor lachte herzlich. Er konnte die beiden flinken Buben gut leiden. Großen Spaß machte ihm vor allem Erlings unverwüstlicher Humor.
«Da wir gerade von mir sprechen», fuhr Erling fort, «darf ich mir vielleicht eine kleine Bemerkung erlauben?»
«Sehr gern!» erwiderte Hansen. «Nur heraus damit!»
«Man pflegt bekanntlich zu sagen, daß die Meeresluft zehrt.»
«Damit hast du vollkommen recht». Der Inspektor lachte. «Es wird tatsächlich Zeit, daß wir uns etwas stärken.»
Er verschwand in der Kajüte des Motorboots, kehrte aber bald zurück. «Ich habe etwas Proviant mitgenommen», sagte er, «denn ich vermutete schon, daß Erling Hunger bekommen würde. Langt zu! Wenn das Mineralwasser nicht reicht, habe ich mehr an Bord.»
Die Tüte, die Hansen aus der Kajüte mitgebracht hatte, enthielt eine reiche Auswahl an lekkerem Kopenhagener Gebäck. Die beiden Freunde ließen sich denn auch nicht lange nötigen.
Inzwischen hatten sie das Inselfort «Trekroner» umfahren und nahmen wieder Kurs auf den Hafen.
Es war ein prächtiger Abend. Das Wetter hätte gar nicht schöner sein können. Die Buben genossen die Fahrt in vollen Zügen.
Als sie in eins der nördlichsten Becken des Freihafens einliefen, hörten sie plötzlich vom Kai her laute Rufe. Jan richtete sich auf und blickte nach der Stelle, woher die Rufe kamen. Er sah aber nur zwei Gestalten, die sich heftig bewegten. Das Licht war schon zu schwach, als daß man Einzelheiten hätte unterscheiden können.
«Haben Sie das gehört, Beck?» rief der Inspektor. «Legen Sie das Ruder herum und fahren Sie näher heran!»
«Jawohl», sagte der Rudergänger und nahm Kurs auf den Kai.
Dort lag ein kleiner Frachtdampfer vertäut, der augenscheinlich eine Bretterladung löschte, denn auf dem Kai lagen schon einige Stapel langer Bretter.
Als das Polizeiboot anlegte, sprang Jan als erster an Land. Erling und der Inspektor folgten ihm.
Jan lief auf eine dunkle Gestalt zu, die auf dem Kai lag und beugte sich über sie. Es war ein Mann, und er war bewußtlos. Sonst war niemand zu sehen.
Jan begriff sogleich, was da geschehen war. Der auf dem Kai Liegende war offenbar niedergeschlagen worden, und der Täter hatte die Flucht ergriffen. Wahrscheinlich war eine Prügelei vorausgegangen. Jan hockte neben dem Bewußtlosen nieder, dessen Lippen sich schwach bewegten. Jan beugte sich vor und lauschte. Aber alles, was er hören konnte, waren ein paar zusammenhanglose Worte: «...sollst ... du ... büßen ... Kurt.»
Die Augenlider des bewußtlosen Mannes begannen zu zittern, und in dem Augenblick, da der Inspektor und Erling kamen, schlug er die Augen auf und blickte sich verwirrt um.
Hansen beugte sich zu ihm nieder und versuchte ihn aufzurichten: «Tut Ihnen etwas weh? Können Sie sich aufrichten?»
«Ja... ich glaube...»
Der Überfallene nahm sich gewaltsam zusammen, und schließlich setzte er sich auf. Als er die Uniform sah, erschrak er sichtlich. «Was ist geschehen?» fragte Hansen.
Der Blick des Mannes irrte umher. Er schien noch nicht recht bei Bewußtsein zu sein. Schließlich murmelte er: «... hat mich niedergeschlagen... Wohl mit einem Knüppel...»
Während der Inspektor dem Überfallenen aufhalf und ihn zu einem der Bretterstapel führte, wo er sich niedersetzen konnte, ließ Jan seine Blicke über das Pflaster des Kais gleiten. Er sah etwas glänzen, bückte sich schnell und hob es auf. Es war ein kleiner runder Taschenspiegel. Er betrachtete ihn nicht genauer, sondern steckte ihn gleich in die Tasche. Dann machte er sich daran, das Pflaster sorgsam zu untersuchen, fand aber nichts weiter. Schließlich kehrte er zu den anderen zurück.
Der Überfallene war jetzt so weit zu sich gekommen, daß er eine einigermaßen zusammenhängende Erklärung abgeben konnte. Er rauchte dabei eine Zigarette, die Hansen ihm gegeben hatte.
«Wie heißen Sie?» begann der Inspektor das Verhör.
«Gustav Lundquist».
«Der Name klingt schwedisch, aber Sie sprechen dänisch?»
«Mein Vater war Schwede. Ich selber bin hierzulande geboren.»
«Was haben Sie für eine Beschäftigung?»
«Ich bin Koch.»
«Wo?»
«Auf dem Schiff dort.» Er zeigte auf den Frachtdampfer mit der Holzladung.
«‚Ragna IV’ ... Das ist wohl ein dänisches Schiff?»
«Ja. Es gehört der Reederei Mortensen & Nielsen. Wir sind gerade mit Holz von Finnland gekommen.»
«Und Sie wohnen hier in Kopenhagen?»
«Ich habe hier gewohnt. Aber jetzt habe ich keine feste Adresse, weil ich die meiste Zeit unterwegs bin.»
«Nun erzählen Sie, was eigentlich geschehen ist», forderte der Inspektor ihn auf und beugte sich vor.
Der Koch machte eine kurze Pause, faßte sich an den Kopf und stöhnte. Er schien noch immer etwas benommen zu sein. «Was geschehen ist? Das war so. Ich ging hier auf dem Kai etwas spazieren, und da kam ein Mann und bat mich um ein Streichholz. Ich strich eins an und hielt es so, daß ich mit der Hand die Flamme schützte... Das pflegt man ja zu tun, wenn man auf See ist... Da holte er aus und versetzte mir einen Schlag... Sonst erinnere ich mich an nichts...»
«Können Sie den Mann beschreiben, der Sie niederschlug?»
«Vielleicht... Aber er sah eigentlich nicht weiter auffallend aus.»
«War er jung oder alt?»
«Ich glaube, er war mitten in den Dreißigern. Besonders gut angezogen war er nicht. Er trug auch keine Krawatte, sondern nur ein Wollhemd mit Bund, das am Halse offenstand. Und dann trug er eine Mütze...»
«Welche Farbe hatte sein Anzug?»
«Blau, glaube ich.»
«Und Sie sind sicher, daß er Ihnen nichts gestohlen hat? Er muß doch eine Absicht gehabt haben, als er Sie niederschlug.»
Der Koch tastete seine Taschen ab. Er zog seine Brieftasche hervor und blickte hinein. Dann schüttelte er den Kopf. «Ich vermisse nichts», sagte er.
«Hm!» meinte der Inspektor. «Es sieht so aus, als hätte der Kerl, der Sie überfallen hat, Angst bekommen, und sei fortgelaufen. Vielleicht hatte er uns in unserem Boot kommen sehen. Er dürfte die Absicht gehabt haben, Ihnen Brieftasche und Uhr wegzunehmen. Wollen Sie, daß wir einen Rapport aufsetzen und den Überfall melden?»
«Nein, danke, lieber nicht», sagte der Koch. «Ich mag nicht gerne zum Gericht rennen.»
Der Inspektor stand auf und steckte sein Notizbuch in die Tasche. «Fühlen Sie sich kräftig genug, daß Sie allein auf Ihr Schiff zurückkehren können?» fragte er.
«Ich glaube schon.»
Der Koch erhob sich, lächelte verlegen und ging auf sein Schiff zu. «Derartige Sachen kommen oft vor», sagte der Inspektor, während er ihm, die Schultern zuckend, nachblickte. «Überfälle und Schlägereien haben wir hier am laufenden Band.» Nach einer kurzen