Dem Durchschnitt von drei Treffern pro Spiel entspricht das 2:1 als wahrscheinlichstes Spielergebnis (auch wenn laut einer FIFA-Statistik von 2004 das 1:0 noch etwas häufiger vorkommt). Statistisch gesehen hat damit jede Mannschaft pro Spiel mindestens eine „sichere“ Trefferchance. Ein einziges Tor kann zwar eine Partie entscheiden, aber solange sie keinen zweiten Treffer drauflegt, ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass der Gegner zum Ausgleich kommt und damit in der Chance, doch noch den Sieg zu erringen, gleichzieht. Beim Fußball sind Treffer demnach Höhepunkte, auf die hin die gesamte Dramaturgie des Spiels sich zusammenzieht. Aus dem Minus der Anzahl wird ein Plus der Spannung. Zwar kann es auch bei den „Vieltrefferspielen“ Handball und Basketball zu dramatischen Endphasen kommen, in der Regel aber sind die Spiele in diesen Sportarten schon lange vor dem Schlusspfiff entschieden, weil sich eine Mannschaft bereits einen uneinholbaren Vorsprung herausgespielt hat.
Die Seltenheit des Fußballtores lässt die Behauptung gerechtfertigt erscheinen, dass es eine ähnliche Qualität hat wie der K.o. im Boxen. Oder, etwas genauer ausgedrückt: Ein Tor im Fußball entspricht einem Wirkungstreffer, nach dem ein Boxer angezählt wird; der Kampf geht weiter, und vielleicht ist der angeschlagene Boxer nun erst richtig wachgerüttelt, um seinerseits die Entscheidung zu suchen. Aber bevor man weiter darüber philosophiert, wie treffend dieser Vergleich ist – klar ist allemal, dass beide Sportarten besonders spannend sind, weil in jedem Augenblick ein Schlag oder Schuss die endgültige Entscheidung bringen kann.
Fußballästheten wie der Schriftsteller Peter Handke behaupten, dass ein Spiel auch eine Augenweide sein kann, „ohne dass es zählbare Treffer gibt“. Tatsache ist jedoch, dass zum Beispiel das 0:0 im WM-Endspiel 1994 zwischen den Klasseteams aus Brasilien und Italien eher etwas für die Liebhaber von Strategie-Seminaren war. Und im Normalfall entspricht der Verlauf des typischen 0:0 eher dem des Spiels Bundesrepublik - England bei der WM 1982, das die „Welt“ so kommentierte: „Das Unentschieden gegen die Engländer war nicht mehr als ein Gleichgewicht der Ohnmacht, kein Ergebnis hätte der kärglichen Kickerei besser gerecht werden können als ein 0:0. Null Tore, null Mut, null Selbstvertrauen, null Kraft, null Stärke. Für Mathematiker null Periode, beliebig fortsetzbar also – Nulldiät oder Nullwachstum.“
Viele meinen daher, ein Fußballspiel werde nur dann interessant, wenn möglichst viele Treffer fallen. Folgerichtig fordern sie eine Reform des Fußballspiels – zum Beispiel größere Tore –, die zu einer Erhöhung der Trefferzahl führen würde. Die Ansicht, dass ein Spiel durch viele Treffer schön wird, ist sicherlich richtig, aber auch Handke liegt prinzipiell nicht falsch, denn tatsächlich kann bei einem Spiel, das 0:0 endet, interessanter und schöner Fußball geboten worden sein. Mit der bloßen Feststellung, dass ein 0:0 „auch“ unterhaltsam sein kann, und mit der kurzsichtigen Forderung nach „vielen Treffern“ kommt man jedoch nicht weiter, wenn man dem Geheimnis des Fußballtores auf die Spur kommen will.
Interessant kann ein trefferloses Spiel nur dann sein, wenn und solange beide Mannschaften über die gesamte Spielzeit hinweg versuchen, Tore zu erzielen. Spiele, bei denen nicht permanent ein Treffer droht, haben außer Langeweile kaum etwas zu bieten. Der misslungene Torschuss, der Treffer, der „in der Luft liegt“, aber doch nicht fällt, ist es, der selbst ein 0:0 spannend macht: Denn während des Spiels kennt ja noch keiner das Ergebnis. Auch die unbestreitbare Tatsache, dass gerade Spiele, in denen außergewöhnlich viele Tore fallen, später zu den „Sternstunden des Fußballs“ gerechnet werden, darf nicht zu der Annahme verleiten, dass mehr Tore zu mehr Fußball-Faszination führen würden. Kantersiege wie das berühmte 7:1 anno 1971 von Borussia Mönchengladbach über Inter Mailand sind zwar leckere Sahnehäubchen, aber wenig spannend.
Knapp entschiedene Spiele mit hoher Trefferquote, Spiele, die mit 3:4 und 4:5 enden – oder gar 5:6 wie Polen 1938 gegen Brasilien, Borussia Mönchengladbach 1969 gegen Werder Bremen oder der VfL Bochum 1976 gegen Bayern München – sind spannend, aber sehr selten. Solche Spiele sind ganz besondere Ereignisse, an die alle, die sie erlebt haben, gerne zurückdenken. Aber würden sie nicht den Appetit verderben, wenn man sie zu oft genießen kann? Wiederholung verhindert Außergewöhnlichkeit, und so sollte man dem unbekannten Dramaturgen des Fußballspiels dankbar sein, dass er „traumhafte“ Ergebnisse zwar gestattet, aber nicht zur Alltäglichkeit verkommen lässt.
„Jahrhundertspiele“ wie das 4:3 Italiens gegen Deutschland im Halbfinale der WM 1970 können nicht jedes Wochenende stattfinden. Im normalen Fußball-Alltag dürfen es ruhig auch mal ein paar Tore weniger sein. Diese Aussage hat nichts zu tun mit einem Faible des Autors für den so genannten „Betonfußball“. Denn die im Durchschnitt so geringe Trefferquote hat nicht primär damit etwas zu tun, dass Fußballspieler sich zu sehr auf das Verhindern von Toren konzentrieren würden. Da es ohne Tore keine Siege gibt, strebt jede Mannschaft normalerweise auch nach Toren. Erfolgsdenken heißt im Fußball immer „Denken in mehr geschossenen Toren“. Deswegen müssen und wollen ja auch letztlich alle Tore schießen, nur ist das eben beim Fußball besonders schwer. Zwar fallen Tore manchmal „wie aus heiterem Himmel“, sie werden aber einer Mannschaft in der Regel nicht geschenkt. Manche Mannschaften müssen sehr lange auf das nächste Tor warten. So der 1. FC Köln in der Saison 2001/02: genau 1.033 Minuten.
Das große Spielfeld, die große Anzahl der Spieler, die Schwierigkeit, den Ball sicher zu schießen – all das führt zu Vorteilen für die Abwehr. Laut verschiedener Statistiken endet beim Fußball nur ein Bruchteil aller Angriffsaktionen mit einem zählbaren Erfolg. Die geringe Trefferquote ist demzufolge weniger auf eine „Maurermentalität“ unter den Trainern zurückzuführen, als vielmehr auf die Struktur des Spieles selbst. Weil es leichter ist, Tore zu verhindern, als selbst welche zu schießen, ist der Erfolg in der Defensive besser zu planen, und so wäre es grob fahrlässig, sich in der Abwehrarbeit aufs Glück zu verlassen. Meisterschaften werden in der Regel durch die Zahl der Gegentreffer entschieden, nicht durch die Zahl der selbst erzielten Tore. Die Bundesliga-Saison 1992/93, in der Werder Bremen mit 63:30 Toren über die 74:45 Tore von Bayern München triumphierte, ist nur ein Beispiel unter vielen.
Viel von der Spannung eines Fußballspiels ist also der Tatsache zu verdanken, dass es so schwer ist, ein Tor zu erzielen. Was wäre ein Spiel ohne das Raunen des Publikums, ohne jene „AAAhs“ und „OOOhs“, die einen Schuss begleiten, der knapp am Gehäuse des Torwarts vorbeizieht, was wäre der „Sound“ eines Stadions ohne jenes Stöhnen und tiefe Durchatmen, wenn der Torwart einen „unhaltbaren“ Ball doch noch aus der Ecke fischt oder wenn der schon sicher geglaubte Treffer sich im letzten Moment als Lattenschuss oder Pfostenknaller entpuppt. Etwas zugespitzt könnte man also sagen: Viele Schüsse, die danebengehen, sorgen für mehr Spannung als eine Vielzahl von Treffern. Nur weil ihm eine Fatalität des Misslingens anhaftet, kann der Torschuss sich zum Drama entwickeln. Ein Stürmer kann sich die besten Chancen herausarbeiten und die Zuschauer von den Sitzen reißen – wenn er nicht trifft und der schon angestimmte Freudenschrei im Hals stecken bleibt, ist er ein Versager. Nicht gut hat es das Schicksal beispielsweise mit dem Kaiserslauterer Stefan Kuntz gemeint, als er in einem einzigen Spiel der Bundesliga-Hinrunde 1994 viermal hintereinander nur Pfosten oder Latte traf. Und doch würden auch zehn Fehlversuche nicht ausschließen, dass der elfte dann sitzt. Niemals aufgeben.
Für jedes Spiel gilt, dass sicher geglaubte Siege noch ins Wanken geraten, plötzliche Kontertore die Moral einer bis dahin im Sturm erfolglos wirbelnden Mannschaft vollkommen zerstören und den Spielverlauf „auf den Kopf stellen“ können.