Ich heisse Hayat. Auf Arabisch bedeutet das »Leben«. Stellen Sie sich das mal vor! Ich war ganz allein »das Leben«, mit seiner Frische, seinem Licht und seinen Versprechungen. Eigentlich sollten alle Kinder dieser Welt den gleichen Vornamen tragen wie ich. Damit würden die Erwachsenen daran erinnert, dass die letzte Göre, die barfuss durch die Rue du Pardon läuft, eine Welt für sich ist. Eine Welt voll unermesslichen Reichtums, komplex, unvorhersehbar, manchmal unbeständig, doch äusserst verletzlich.
Ich muss kahl auf die Welt gekommen sein, denn ich erinnere mich nicht an alte Wunden. Mutter muss das weisse Teigstück geliebt haben, das sie in die Welt gesetzt hatte. Da sie mich so genannt hat, muss sie hochfliegende Pläne für mich gehabt haben. Dieses seltsame Geschöpf, das ständig herumhampelte, soll einen über sich hinausweisenden Namen tragen. Du wirst Leben heissen, mein Kind. Du wirst Schatten und Licht sein, Wasser, Feuer, der sternbesäte Himmel, der stumme Mond und Ihre Majestät, die Sonne. Du wirst die reife Frucht sein, das Lächeln des Engels, der sommerliche Abendwind und die launischen Jahreszeiten. Du wirst die Flüssigkeit sein, die der Begegnung der Liebenden entspringt, die Liebkosung des Schmetterlings am Saum eines Kusses; du wirst der betörende Duft der Schönen der Nacht sein, die schlaflos werden, du wirst, du wirst, du wirst …
Ich wurde nichts von all dem. Das schöne Versprechen meines Vornamens löste sich in einem weniger herrlichen Spitznamen auf. Hayat wurde ganz automatisch zu Houta, was Fisch bedeutet. Mein stolzes Leben wurde von einem schlüpfrigen Fisch hinweggetragen. Doch alles war nicht verloren. Der Fisch lehrte mich, dass die Rettung in der Flucht liegt; ich lernte, mich zu verstecken, wenn es brenzlig wurde, ich lernte, mich aus dem Staub zu machen, wenn die Menschen zu Tieren wurden.
Ich weiss nicht, ob das Bild des zappelnden Fischbabys in einer Wiege wirklich ist oder nur die Phantasie eines Künstlers, der in seiner Blase schwebt. Wie wäre eine solche Persönlichkeitsspaltung möglich gewesen? Zugleich Motiv des Bildes und Beobachter sein. Ich bin jedoch sicher, mich als Baby in meiner gepolsterten, mit weissem Leinen ausgelegten Wiege gesehen zu haben. Wie in einem Film erinnere ich mich an die dunklen Augen von Tante Rosalie, die sich über mich beugt und wiederholt, was zum Kreuz meiner Mutter werden sollte: welch ein Wunder, dieser kleine Engel aus dem Norden! Der Spruch war in der Welt! Wie ein Lauffeuer erfasste er das ganze Viertel und nahm jede Form von Zynismus an. Die Bösartigkeit der Nachbarinnen erreichte ihren Höhepunkt bei jeder Streiterei. Da fand ich mich immer in der ersten Reihe wieder, um meine Mutter zu verunsichern. Der Engel aus dem Norden war ihr wunder Punkt. Die verhängnisvolle Waffe, die die Tratschtanten benutzten, um sie zu vernichten, der Finger, den sie immer wieder in die Wunde legten, bis zur totalen Niederlage. Auf den »Engel der Sünde« folgte der »Bankert aus dem Norden« oder auch der »Abfall der Ungläubigen« und tausend andere Beschimpfungen, die ich nicht zu wiederholen wage. Wie immer liess Mutter das an mir aus, wenn sie nach Hause kam. Es setzte haufenweise grundlos Ohrfeigen. Manchmal biss sie mich so heftig, dass lange Spuren blieben. Sie war kaum bei Verstand, wenn sie mich so hasserfüllt zusammenschlug. Wie auch immer! Ich fiel in Ohnmacht, wenn ihre rotunterlaufenen Augen mit denen von Vater verschwammen. Manche Abende sperrte er mich in sein Zimmer ein, um mich zugleich zu bestrafen und zu lieben. Ich fiel gerne in Ohnmacht, denn dann spürte ich nichts mehr. Weder den Schmerz. Noch die Worte, die wie Fledermäuse an meinem Körper klebten.
Manchmal, wenn ich wieder zu mir kam, lag ich in den Armen meiner Mutter. Sie drückte mich zärtlich an sich und weinte wie ein Kind.
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