Er erinnerte sich freilich, dass es längst Winter war, auch dort draussen. Dennoch behaupteten jene Bilder ihren Reiz, als hätte seine Ahnung sie unter der Schneedecke zu verschönen vermocht. So reiste er, ohne Agnes zu benachrichtigen, denn er liebte nicht Mienen, die zum Empfang vorbereitet waren. Unzufriedenheit bemächtigte sich seiner während der Fahrt. Ihm schien, eine innere Macht wolle ihn warnen oder zurückhalten. Die fremden Gesichter um ihn her, die Langeweile, Neugierde und Sattgegessenheit verrieten, erbitterten ihn. Ein kleiner Mensch mit einer seltsam zugestutzten Kakadufrisur sprach unablässig über die Mehlbörse. Niemand hörte zu, niemand antwortete, so dass sein Reden dem lästigen Gesummse einer Biene glich. Voller Verdruss suchte sich Hanka durch die Betrachtung der schneeblauen Landschaft zu zerstreuen, dann zog er schon gelesene Briefe aus der Tasche und las sie wieder. Einer belustigte ihn, der in dem neckisch-empfindsamen Ton der grossen Welt gehalten war, eigentlich keinen Inhalt hatte, aber vieles bestocherte wie mit einer Nadel. Hanka schmunzelte und sah seine Freundin leibhaftig vor sich stehen, die zierliche, kleine, ruhelose Natalie.
Agnes wurde bleich, als die lange Gestalt ihres Bruders unter der Küchentüre auftauchte. Mit zitterndem Arm griff sie nach der Lampe, um zu sehen, ob er es denn wirklich sei. Hanka lachte, riss seine schwarzen, stumpfblickigen Augen auf und starrte mit komischer Schwärmerei den Apfelkuchen an, der neben dem Herde lag. Jetzt lachte auch Agnes, als sie ihn so fand, wie sie wünschte, und mit seiner Ankunft nicht den Gedanken eines Unheils zu verbinden brauchte. Auch Beate kam; Hanka war betroffen durch ihren Anblick. Sie war blass; ihre Bewegungen waren verhaltener, wenn sich auch in einem Achselzucken oder einem Lachen wie sonst ein bäurischer Zug zeigte. Aber in wenigen Wochen schien sie gereift und abgeschliffen. Ihr Lächeln war prüfend, ihre Art, sich umzudrehen, den Kopf zu erheben, mit einem Ruck eine lauschende Stellung anzunehmen, war, obwohl rasch und temperamentvoll, so doch frauenhaft. Sie hatte etwas Besonderes angenommen, so kam es Hanka vor; eine Prägung, die sie von allen andern auf den ersten Blick unterschied. Er blieb den Abend über schweigsam, doch galt es schon nach der ersten Stunde für ausgemacht, dass er einige Wochen bleiben würde. Er brauche Ruhe, sagte er. Agnes freute sich auf ihre schüchterne Weise in sich hinein; Hanka wurde aufmerksam durch Beates eigentümliches Benehmen. Sie erhob sich oftmals vom Tisch und ging auf und ab, suchte ihr Gesicht zu verbergen, sich den Anschein einer Gleichgültigen zu geben, doch zitterte sie vor Unruhe und Ungeduld. Bisher war sie allabendlich um diese Stunde entwischt. Agnes ging sonst früh zu Bett, und die Mahlzeit war kurz. Nun sollte sie warten; auf dem Herd wurde noch gekocht, und bis gegessen war, mochte es spät werden. Sie wollte nicht unvorsichtig sein und ging umher, Wut und Hass im Innern, brennend vor Begierde, einen Plan nach dem andern erwägend und im Geist durch Schnee und Kälte zur Scheune des Randomirschen Gutes eilend. Klugheit und Rücksicht entschwanden mit dem Vorschreiten der Stunde; langsam verliess sie das Zimmer, als könne sie auch ebensogut bleiben, und ein verwilderter Ausdruck trat in ihrem Gesicht hervor, als sie draussen hastig Kapuze und Mantel umlegte. Sie lief an den Ort der Zusammenkunft, um Aufschub zu erbitten, durch eine flüchtige Liebkosung Sicherheit zu geben, denn Furcht bewegte sie noch mehr als Liebe.
Hanka war ihre Abwesenheit nicht unerwünscht. Argwohn lag weit von ihm; eher vermutete er etwas für Beate Günstiges und für ihn selbst Angenehmes. Im Grunde sah er das, was er aus ihr hatte machen wollen, nicht das, was sie geworden war durch sein geringes Hinzutun. Er gedachte sich ihr gegenüber wie ein Vater, wenn nicht wie ein Grossvater zu betragen, ihn täuschte die dörfliche Ruhe und trübte sein sonst so vorsichtiges Urteil. Er hatte das Bedürfnis, mit Agnes von Beate zu sprechen. So dehnte er sich behaglich auf dem Sofa aus (er war so lang, dass seine Beine von den Waden an ausserhalb des Möbels in freier Luft schwebten) und bat Agnes, sich neben ihn zu setzen.
Agnes bekannte, sie wisse eigentlich nichts über Beate. So gütig aus ihre Äusserungen waren, und so sehr sie in Son und Wort jede Richterlichkeit ablehnte, aus allem war doch deutlich, dass sie und das junge Mädchen niemals aneinander warm geworden waren. Nichts Böses war Agnes bekannt, aber auch nichts, was ihr weiches und mit Nachsicht verschwenderisches Herz gefangen hätte. Mit froher Bereitwilligkeit hatte sie damals Alexanders Willen getan, und das Mädchen bei sich aufgenommen, selbst gefesselt und entzückt durch eine so zukunftsvolle Handlung. In Frieden hatte sie mit Beate gelebt, doch nicht in jener Freundschaft, die oft so glühend zwischen Frauen entsteht, deren gemeinsame Wünsche sich in einem dritten Wesen vereinigen. Es war, als sei das Kind aus einer fremden, stolzen Rasse zur Sklavin geworden, aber unbeugsam in der Seele und im Verborgenen auf einstige Befreiung und Macht hoffend. Ihre Vergnügungslust sei nicht zu bändigen, sagte Agnes, oft scheine sie still und ein wenig tückisch, oft ausgelassen und fast roh; auch lüge sie gern. Aber bei alledem liesse sich gut mit ihr hausen; sie füge sich schnell und wer weiss, vielleicht rumore nur die düstere Kindheit noch in ihr. Zu spät vielleicht sei sie in das Licht des Lebens getreten, als dass man die Dunkelheit, aus der sie gekommen, vergessen dürfe.
Alexander Hanka lauschte und freute sich einer Offenheit, die ihm Agnes und, wunderlich, auch Beate näher brachte. Er war weniger für das Tugendhafte, als für das, was Charakter gibt, und er konnte in der Verletzung üblicher Moralsätze etwas Lebensförderndes sehen. Und wie die sanfte Stimme seiner Schwester über alles hinweghuschte, das Eckige glättend, das Übel begütigend, erschien ihm Beate geschmückt mit den Zeichen der Persönlichkeit; ihr herbes Gebaren nahm er hin; er beschloss, es an Verständnis nicht fehlen zu lassen.
Als der Tisch gedeckt war, begann Agnes das junge Mädchen zu vermissen. Sie fragte die Magd, aber da trat Beate schon ein, mit derselben nachlässigen Langsamkeit, mit der sie gegangen war, und mit einer Miene, als hätte sie ein Taschentuch im Nebenzimmer geholt.
Hanka verbrachte die Hälfte der Nacht mit unruhvollen Gedanken. Zärtliche Regungen lagen ihm fern. Aber es war, als ob zukünftige Tage ihn lockten, und so verkroch er sich in Betrachtungen. Früh am Morgen machte er sich schon zu einem Spaziergang auf, denn er wollte einsam sein; nicht um zu beschliessen, sondern um Erwägungen und Entschlüssen zu entgehen, die zu Hause blieben, wo Beate war.
Agnes war auf den Wochenmarkt nach Podolin gegangen. Beate sass allein im Zimmer und vertrieb sich die Zeit, indem sie mit einer Schablone Stickmuster auf Linnen malte. Da klopfte es an der Türe, und Arnold trat ein. Er grüsste, nahm unbefangen ihr gegenüber Platz, und als er sich überzeugt hatte, dass sie allein sei, übergab er ihr das Kuvert mit der Photographie, wie er es von Specht empfangen. Sie nahm es, starrte schweigend auf das Bild, blickte Arnold an und verzog verächtlich Brauen und Mund. Dann stand sie auf, zerriss ihr Porträt und warf die Stücke in den Ofen, vor den sie sich nun mit gespreizten Beinen stellte und unverschämten Tones fragte: „Sind Sie vielleicht deshalb gekommen?“
Arnold bejahte.
„Zu viel Umstände“, spottete Beate.
„Ich finde auch, dass er zu viel Umstände mit Ihnen macht“, entgegnete Arnold trocken.
Beate trat zwei Schritte vor, erblasste, und ihr Blick irrte furchtsam von Tür zu Tür. Sie bekam Angst vor der Ruhe und Sicherheit ihres Gastes und wusste sich nicht zu erklären, warum er immer noch blieb. Sie legte den Arm über die Augen und stellte sich, als ob sie weinen wollte. Arnold sagte endlich: „Kommt Frau Hanka bald? Ich soll sie von Maxim Specht grüssen. Er hat nicht Zeit gehabt zu einem Besuch.“ Arnold fasste sehr wörtlich auf, was ihm bestellt war.
Aus diesen Worten und aus dem harmlosen, fragenden Blick, der sie begleitete, sah Beate, wie überflüssig ihre Befürchtungen seien. Ihr Selbstgefühl wuchs wieder; sie lachte spöttisch, wandte sich, um das Zimmer zu verlassen, und sagte auf der Schwelle: „Auf Wiedersehen.“ Damit schlug sie die Türe zu.
Arnold wartete nicht gerade, weil ihm der Auftrag zum Gruss so wichtig erschienen wäre; aber er vergass nach wenigen Minuten, dass er sich in einem fremden Haus befand. Das plötzliche Alleinsein liess unveränderliche Gedanken aufs neue emporstürmen. Ausserdem begann die drückende Stimmung des eigenen Zuhause von ihm zu weichen. Er hatte zusammen mit dem Doktor das Haus verlassen, der allerlei bedenkliche Redensarten über Frau Ansorges Krankheit gemacht hatte.
Während er noch versunken war, trat Alexander Hanka mit seinem ausholenden Schritt herein, nach seiner Gewohnheit