Jürgen Barkhoff
Die Katze als philosophisches und poetologisches Tier
Thomas Hürlimanns Wappentier ist die Katze. Katzen durchstromern sein literarisches und essayistisches Werk, und sie sind dabei weit mehr als Motiv-, Metaphern- oder Symbolträger. »Der Kater ist aus der Spiegelgasse zu uns gekommen«,1 heißt es in Hürlimanns Opus Magnum »Heimkehr« über Dada, den sprechenden Kater, der »aus dem nahegelegenen Cabaret Voltaire entlaufen«2 ist und zum Alter Ego, »Consigliere«,3 also Ratgeber, und Seelenführer des Protagonisten und verhinderten Schriftstellers Heinrich Übel wird. Diese autoreflexive Spiegelfunktion gilt in Variationen für sämtliche Katzen, die auf samtenen Pfoten klug und instinktsicher und zugleich unberechenbar und widerspenstig durch Hürlimanns Texte tigern. »Obwohl sie friedlich mit uns leben, haben sich Katzen ihre Nachtseite bewahrt. (…) Ich habe eine Katzenseele.«4 So bekennt sich der Autor zum hohen Identifikationspotenzial der felinen Spezies für ihn. Katzen sind in seinem Werk zentrale Akteure, die die Handlung an Schlüsselstellen beeinflussen und in denen sich die grundsätzlichsten biografischen, philosophischen und poetologischen Fragen des Hürlimann’schen Lebens und Schreibensverkörpern. Sie sind geschmeidig-präsente und sich zugleich verweigernd-entziehende Grenzgänger zwischen Biografie und Literatur, zwischen Instinkt und Geist, zwischen Tierreich und Menschenwelt, ja zwischen Leben und Tod, zwischen Diesseits und Jenseits. Sie sind menschenaffin und als »philosophische Tiere«5 im Sinne Nietzsches und als »Borderliner der Transzendenz«6 Lehrmeister des Menschen und des Künstlers Thomas Hürlimann. Sein Werk präsentiert eine in ihrer Vielschichtigkeit und Prägnanz außergewöhnliche und weitreichende Verhandlung von Mensch-Tier-Beziehungen. Roland Borgards, die wichtigste Stimme der Cultural Animal Studies im deutschsprachigen Raum, fragt, »welcher konstitutive Anteil den Tieren an der Literaturproduktion des Menschen zuerkannt werden kann«.7 Thomas Hürlimann gibt darauf eine faszinierende Antwort.
Die erste Hürlimann’sche Katze taucht auf dem Friedhof auf, und die vorerst letzte saust bekifft als Chevy-Chauffeur Heinrich Übels wie ein aus der Spur gelaufener Charon »(a)uf die andere Seite, Herr Doktor, vom Tod ins Leben!«8 – oder vielleicht auch umgekehrt, denn um das Offenhalten dieser Frage kreist der ganze Roman. In der frühen Meisternovelle »Das Gartenhaus« kommt das »Verhängnis«,9 sprich die Handlung in Gang, als beim täglichen Friedhofsbesuch sich die Frau verabschiedet und statt ihrer hinter dem Grabstein des toten Sohnes eine Katze auftaucht, »knochig, zittrig«, den Mann »mit großen Augen« fixierend.10 Das Überleben dieses zugleich bedrohten wie zähen Tieres macht der Oberst, der das Sterben seines Sohnes nicht verhindern konnte, fortan zu seinem Lebensmittelpunkt. Hierzu mobilisiert er militärische Erfahrung und den Instinkt des erfahrenen Troupiers, was seine Frau, je mehr ihm die Friedhofskatze »an sein altes, müdes Herz« wächst,11 als Verrat an ihr, dem verlorenen Sohn und der verweigerten gemeinsamen Trauer erfährt. In Interviews hat Thomas Hürlimann die enge Verbindung dieser fiktionalen Konstellation zu seiner Biografie betont. »Die Katze ist in die Geschichte hineingeschlichen, genau wie sie beschrieben ist (…). Es war Dämmerung, ihre Augen leuchteten. Ich wusste nicht, was für ein Tier das war. Es grub etwas aus. Dann sah ich, dass es eine Katze war.«12 Damit steht das Auftauchen dieser individualistischen Tiere, die neugierig Verstecktes ausbuddeln und mit ihren vermeintlich sieben Leben dem Tode trotzen, in unmittelbarem Zusammenhang zu dem Ursprungstrauma des Hürlimann’schen Schreibens, dem Krebstod des 20-jährigen Bruders Matthias im Jahr 1979, an dessen Grab auf dem Friedhof in Zug die Katze dem Autor begegnete. Katzen umkreisen die großen Themen des Hürlimann’schen Werkes, die Frage nach dem Verhältnis zwischen Leben und Tod, den Kampf gegen die Vergänglichkeit,