Amen
I. Drei Arten, eine christliche Organisation zu betrachten
1. Es ist wichtig, zu unterscheiden
Unsere inneren Bilder davon, was eine christliche Organisation ihrem Wesen nach ist, wie sie funktioniert und welche Zwecke sie erfüllen sollte, sind sehr verschieden. Diese inneren Landkarten prägen aber entscheidend die Art und Weise, wie wir Führungsverantwortung wahrnehmen, welche Wege wir führungsmäßig einschlagen und woran und wie wir uns im Führungsalltag orientieren.
Eine christliche Arbeitsgemeinschaft kann wie die Ehe von ganz unterschiedlichen Gesichtspunkten her beschrieben werden. Ist die Ehe eine Arbeits- und Zweckgemeinschaft von Mann und Frau, die zusammen einen Haushalt führen, eine Lebensgemeinschaft bilden und die Verantwortung für die Erziehung ihrer Kinder übernommen hat? Ja, das ist sie. Oder ist die Ehe eine Liebesgemeinschaft, wo Zärtlichkeit und Erotik kultiviert werden? Ja, das ist sie auch. Oder ist sie eine geistige Gemeinschaft, wo wir gegenseitig unsere Gedanken und Gefühle austauschen, entweder nach dem Motto Hölderlins: »Seit ein Gespräch wir sind« oder wie in einem Stummfilm – meistens aber irgendwo dazwischen? Natürlich, das stimmt auch. Oder ist die Ehe ein Sakrament, eine göttliche Stiftung, ein geistliches Geheimnis? Doch, durchaus, auch das ist die Ehe. Alle diese Aspekte gehören zur Ehe. Je nach Blickwinkel und Wahrnehmung tritt ein Aspekt deutlicher in unser Blickfeld und die anderen werden eher in den Hintergrund geschoben. Je nach Lebensalter und Reifestufe betonen wir das eine mehr, das andere weniger.
In ähnlicher Art und Weise unterscheide ich drei Aspekte, unter denen man eine christliche Organisation betrachten kann: den spirituellen, den organischen und den mechanischen Aspekt. Je besser wir die verschiedenen Aspekte unterscheiden – nicht scheiden! –, desto weniger unheilvolle Vermischungen geschehen, wenn wir unsere Führungsverantwortung in einer Gemeinde oder einem Werk wahrnehmen.
Vor einiger Zeit war ich in einem christlichen Hotel zufällig Zeuge folgender Episode: Eine Betriebsangestellte hatte die Nasszelle eines Zimmers nicht gründlich genug gereinigt. Die hauswirtschaftliche Betriebsleiterin, liebevoll Fräulein Rottenmeier genannt, stellte dies bei ihrer Kontrolle fest und schickte ihre Mitarbeiterin zur Nachreinigung. Diese sagte: »Ich möchte dich um Vergebung bitten, dass ich unsorgfältig gearbeitet habe.« »Weißt du«, sagte ihr die Vorgesetzte, »für mich ist das nicht eine Sache der Schuld und Vergebung, sondern der Professionalität. Wir wollen doch alle einfach unseren Job gut machen.«
In christlichen Organisationen führt gut, wer gut unterscheiden kann. So sagt Benedikt von Nursia, der Ordensgründer, betreffend den Abt Folgendes: »Ob sein Arbeitsauftrag, den er erteilt, Göttliches oder Weltliches betrifft, wisse er zu unterscheiden und Maß zu halten.« Der Abt ist geistlicher und weltlicher Leiter eines Klosters, wo Beten und Arbeiten den Grundrhythmus angeben. Das Kloster steht für uns modellhaft für eine christliche Organisation. Zu dieser Gabe und Aufgabe der discretio (Unterscheidung) schreibt Anselm Grün, Geschäftsführer (Cellerar), Seelsorger und Psychotherapeut im Kloster Münsterschwarzach: »Die Unterscheidungsgabe ist für Benedikt die Mutter aller Tugenden. Sie ist gerade für den Abt die Voraussetzung einer klugen und besonnenen Führung. Wer unterscheiden kann, kann auch entscheiden. Er trifft seine Entscheidungen nicht nach irgendwelchen Methoden, sondern aufgrund seiner Unterscheidungsgabe, aufgrund seines inneren Gespürs für das Richtige.«2
Ich schildere im Folgenden die drei Betrachtungsweisen, indem ich immer gleich drei Fragen mitbedenke. Erstens: Welches Menschenbild wird damit zum Ausdruck gebracht? Zweitens: Welches sind typische Gesetzmäßigkeiten, die zu diesem Ansatz gehören? Drittens: Welche Chancen und Gefahren stecken hinter diesem Denkansatz?
2. Die spirituelle Betrachtungsweise: Unsere Organisation ist ein Gefäß für den Geist
Jede christliche Organisation ist letztlich ein geistliches Gefäß, eine Plattform, wo der Heilige Geist wirkt. Wir könnten auch von einem Tempel sprechen, in dem Gott wohnt. Die Form des Gefäßes kann sehr verschieden sein, der Tempel mag die Form eines schlichten Holzkirchleins oder einer Kathedrale aufweisen, inhaltlich geht es immer um das eine: Gefäß sein für Gottes Präsenz: »Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.«3 In seinem Namen versammelt sein bedeutet: Wir sind unter seiner Autorität, seinem Schutz, seiner Wegweisung und seinem Segen zusammen. Wir ringen um eine gemeinsame Schau für unsere Sendung in seinem Namen. Wir lassen Nähe und Intimität vor Gott zu und horchen auf seine Stimme, wie der Schuster in seiner Werkstätte auf den Engel hört.
Wie fing das Unternehmen Kirche genau an? Lukas berichtet uns, wie Jesus seinen Jüngern den Auftrag gab: »Verlasst Jerusalem nicht! Bleibt so lange hier, bis in Erfüllung gegangen ist, was euch der Vater durch mich versprochen hat. Ihr werdet bald mit dem Heiligen Geist getauft werden.«4 Die Jünger Jesu sollen also noch in Warteposition verharren, bis sie die nötigen Ressourcen für ihre Aufgaben bekommen werden, obschon sie die beste dreijährige theologische Ausbildung mit Leiterschaftstraining beim fähigsten Mentor erlebt haben. Ihr werdet dann schon expandieren, sagt ihnen Jesus: »Ihr werdet den Heiligen Geist empfangen und durch seine Kraft meine Zeugen sein in Jerusalem und Judäa, in Samarien und auf der ganzen Welt«.5 Aber zunächst heißt es den Zeitpunkt abwarten. Führen umfasst auch die Kunst, die richtigen Tempi vorzugeben. Folgerichtig lesen wir weiter: »Sie kamen im oberen Stockwerk des Hauses zusammen, wo sie sich auch sonst immer trafen, und beteten miteinander.«6 Im Erdgeschoss lagen Läden und Werkstätten. Über den Produktionsstätten waren im Obergeschoss die Wohn- und Schlafräume, die jetzt zur Gebetsstätte wurden.
Das Herzstück einer christlichen Organisation ist die »geistliche Stubete«. »Stubete« ist ein Ausdruck aus Graubünden, der Landschaft mit den vielen Tälern und Bergen. Man stelle sich eine verschneite Winterlandschaft in den Bündner Bergen vor. Der Specksteinofen wärmt. Jemand hat Geburtstag und man lädt zu einer »Stubete« ein. Leute kommen zu Besuch, nehmen und geben Anteil an ihrem Leben, man trinkt eine Tasse Kaffee oder ein Glas Veltlinerwein und tauscht Segenswünsche aus.
»Sie kamen im oberen Stockwerk zusammen, wo sie sich sonst auch immer trafen, und beteten miteinander.« Hier formiert sich eine weltweit tätig werdende christliche Organisation. Die Trennung von Geistlichem und Weltlichem ist von allem Anfang an vermieden. Jedes Mahl ist ein Abendmahl. Das Obergeschoss ist der Kern und wird zum Gefäß für eine geistliche und sozial tätige Kirche, die das Antlitz der Erde verändern wird.
Was für ein Menschenbild kommt bei diesem geistlichen Ansatz zum Ausdruck? Der Mensch ist Geschöpf Gottes. Er ist dazu bestimmt, im Austausch mit und in der Ver-Antwortung vor seinem Gott zu leben. Der Mensch atmet nicht nur, er kennt nicht nur Respiration, sondern weiß auch um das Geheimnis der Inspiration, wo er von Gottes Geist berührt, angehaucht und erfüllt wird. Der Mensch ist empfänglich für Gottes Liebe, Kraft, Wegweisung und Versöhnung. Er kann Gottes Reden vernehmen und ist selber zum Gespräch mit Gott befähigt. Der Mensch ist »ein Pfeil der Sehnsucht nach dem anderen Ufer« (Friedrich Nietzsche) und ist empfänglich für das göttliche Wort von jenseits.
Auf dem Gebiet des Spirituellen lassen sich typische Gesetzmäßigkeiten beschreiben: Hier gilt das Gesetz: »Und es begab sich.«7 Hier wirkt Gottes Vorsehung und Führung. (Interessant ist, dass in der Leidensgeschichte Jesu, wo andere Kräfte als Gott das Heft übernahmen, das »es begab sich« aufhört.) Ein Tagebucheintrag des ersten Generalsekretärs der UNO, Dag Hammarskjöld (1905–1961), bringt es so auf den Punkt: »Der Einsatz sucht uns, nicht wir den Einsatz. Darum