NECROSTEAM. Группа авторов. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

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Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783957658715
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gepackt und in den Erdboden gezogen zu werden, springt in mir auf.

      Ich weinte vor Dankbarkeit, als wir das Hotel Middendorf erreichten. Davor stand der Vierspänner mit dem Dampfmann.

      Die Baronesse erwartete mich bereits. Ihre Haut wirkte wächsern und blass. »Wir brechen auf, jetzt.«

      Aus der Kutsche heraus sah ich im Nebel das blasse, rotznäsige, rotäugige Gesicht von Emil, rötlich schimmernd im Licht seiner Gaslampe.

      Berta von Babelsberg und ich sprachen kein Wort, bis wir in der Graf von Paris waren und uns sicher, dass der Gestank nach Schwefel und Ruß nur noch aus unseren Haaren und Kleidern drang und nicht mehr aus der Luft um uns herum.

      »Ich möchte nichts hören«, wies mich Berta von Babelsberg an, setzte sich im Kartenraum hinter den Schreibtisch und griff zu Füller und Papier. »Nur eins, haben sie Spuren der Steamstorma gefunden, ja oder nein?«

      »Nein.«

      Sie schrieb. Weil ich den Brief an den Kaiser versiegelte und mich um die Zustellung kümmerte, weiß ich, was sie geschrieben hat.

      Keine neuen Erkenntnisse. Ruhrgebiet funktioniert. Brauchen mehr Arbeiter.

      – BB

      Ich war nie wieder im Kohlenpott. Doch ich weiß, dass die Stahllieferungen für die Werften und Dampflokomotiven weiterhin zuverlässig sind und nach wie vor Arbeiter aus der Fremde in die Region an der Ruhr ziehen. Viele mit ihren Familien, auf der Suche nach dem Glück. Während ich diese Zeilen schreibe, blicke ich auf die Straßen von Berlin. Hier gibt es neuerdings Rikschas, die von Dampfmännern gezogen werden. Die Wiemann-Werft soll sie auch einsetzen. Einige der Dampfmänner wurden zerbeult und zerschlagen in Nebengassen gefunden, scheint, als wären die Steamstorma hier aktiv. Doch die Dampfmänner sind zäh. Ich weiß immer noch nicht, wie sie wahrnehmen. Aber ich bin sicher, auch ohne Augen beobachten sie uns.

      Die Frage ist nur … für wen …

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      Sophia Rosenberger: Der Krieg der Universitäten

      Eine halbe Tagesreise nordwestlich des altehrwürdigen Londons, dort, wo sich die Themse noch schmal und friedlich durch die südenglische Ebene zieht, liegt ein Tal, das seit einem Jahrzehnt niemand mehr betreten hat. Auf den meisten Landkarten Englands wird es durch einen großen, schwarzen Fleck gekennzeichnet, von dem aus sich in alle Himmelsrichtungen Arme wie die eines gierigen Seesterns ausstrecken. Lässt man den Blick von diesem Punkt ein Stück gen Nordosten wandern, findet man am Ufer des Flusses Cam einen ebensolchen unheimlichen Fleck.

      Jahrhundertelang hatten an diesen beiden Orten zwei legendäre Städte gestanden, die erst die Wiegen des Wissens, dann die Hochburgen der Macht des gesamten Empires gewesen waren: Oxford und Cambridge. Es hatte Zenturien, Millennien gedauert, hatte Lebenszeiten an Arbeit, Leidenschaft und Erfindergeist gekostet, sie zu dem zu machen, was sie in ihren Glanzzeiten darstellten. Doch es bedurfte lediglich einer einzigen schicksalhaften Nacht, beide für immer verschwinden zu lassen.

      In nur einer Nacht barsten gläserne Paläste, und goldene Spitztürme stürzten ins bodenlose Nichts. Und mit ihnen fiel auch England, das, ohne sein pulsierendes Herz des Fortschritts und der Triebkraft, unter der Last seines Weltreiches zusammenbrach. Über diese eine Nacht spricht niemand. Zumindest nicht außerhalb stiller Kämmerlein und geflüsterter Erzählungen am Kamin. Daher will ich, nun, da jene Nacht mehr als zehn Jahre zurückliegt, erzählen, wie es wirklich dazu kam, dass unsere Landkarten derart entstellt sind. Denn ich war dabei.

      Der Aufstieg – und damit wohl zugleich auch der Sturz – Cambridges nahm im selben Jahr seinen Lauf, in dem Königin Victoria den englischen Thron bestieg. Tatsächlich munkeln einige, beides habe sogar mit dem Tag ihrer Krönung begonnen, auch wenn dafür heute keinerlei Beweise mehr existieren, denn sämtliche Tagebücher und Dokumente jener Zeit sind ebenso vom Erdboden verschwunden wie Cambridge selbst. Doch sämtliche Geschichtsbücher vermerken das Jahr 1837 als das der großen Veränderungen. Eine junge Victoria trat ihre Herrschaft an, John Herschel entdeckte am Nachthimmel eine Myriade neuer Galaxien – und Cambridge erwachte aus seinem universitären Schlummer.

      Erst waren es nur einzelne der dort tätigen Wissenschaftler, die plötzlich von heute auf morgen Durchbrüche in ihrer Forschung erzielten. Doch im Verlauf weniger Monate, nein, Wochen, schienen sie alle – scheinbar im Schlaf – die Lösung ihrer mathematischen, physikalischen und chemischen Probleme zu finden. Gleichzeitig bescherte diese Zeit den Studierenden eine Eingebung nach der anderen. Bahnbrechende Konzepte und Erfindungen, die bis zu diesem Zeitpunkt als pure Fiktion wahnwitziger Autoren galten, wurden plötzlich zur Realität. Im November 1837 erhob sich das erste Luftschiff von den Ufern der Cam. Als das Weihnachtsfest 1837 nahte, war ganz Cambridge mit elektrischen Laternen beleuchtet.

      Kaum einen Monat später erfolgte der nächste Durchbruch:

      Die junge Assistentin eines Physikers erwachte morgens aus einem surrealen Traum und schrieb, völlig klar und doch wie in Trance, eine Formel in ihr Notizbuch. Als sie sie ihrem Vorgesetzten präsentierte, alarmierte dieser den gesamten Campus. Ein halbes Jahr später hatte man anhand ihrer Erkenntnisse und Berechnungen ein neues, vielseitig einsetzbares Element synthetisiert: den Æther. Industrie und Forschung überschlugen sich in Euphorie. Labors platzten aus allen Nähten, Werkstätten wurden errichtet, und binnen zweier Jahre wuchs Cambridge um das Dreifache an. Wissbegierige und Unternehmergeister des Landes wurden von der Metropole angezogen wie Wespen von einem Glas Zuckerwasser. Selbst das Königshaus vermochte sich ihrem Sog nicht zu entziehen, und so verlegte Victoria im Jahre 1839 persönlich ihr Domizil von London nach Cambridge, in den eigens dort errichteten Victoria Palace.

      Unter den genialen Köpfen Cambridges befand sich auch Charles Babbage, dessen zumeist als Zukunftsmusik verschriene Konzepte künstlicher Gehirne im Jahre 1840 plötzlich physische Form annahmen: Olimpia, die erste ihrer Art, erblickte das elektrische Licht der Welt. Was als einfache Rechenmaschine begonnen hatte, avancierte durch eine nächtliche Offenbarung Babbages zu einer Frau aus Metall und Zahnrädern. Olimpia war ein Uhrwerksmensch, eine automatische Dienerin mit menschengemachtem Intellekt. Und sie sollte nicht die einzige ihrer Art bleiben. Nur ein Jahr später übergaben zahllose Unternehmer, wohlhabende Bürger und Wissenschaftler Cambridges ihre Arbeiten in die Messinghände der ersten Generation von Babbage-Automaten.

      Die Stadt wuchs nicht nur, sie verwandelte sich auch. Nach einiger Zeit fiel den Bewohnern Cambridges auf, dass die pulsierende Energie ihrer Lampen und Generatoren sich auf andere, sonderbare Weise zu manifestieren begann. Das kühle Licht der Laternen schien in den Boden zu sickern und in der Luft hängen zu bleiben wie Dämpfe eines chemischen Experiments. Die Energieleitungen schien ein seltsames Glimmen zu umgeben, das über Wochen und Monate hinweg deutlicher und heller wurde, bis den ersten Beobachtern die Kristalle auffielen. Winzige, kristalline Partikel, die ein kühles, türkisfarbenes Licht verströmten, sammelten sich und umschwebten scheinbar schwerelos Laternen und Maschinen. Wie leuchtende Aquamarinsplitter tanzten sie in der feuchten, englischen Luft. Was anfangs Besorgnis auslöste, wurde bald zum Versuchsobjekt der Cambridger Wissenschaftler. Doch nach langwierigen, aufwendigen Experimenten kamen alle Beteiligten zu dem Schluss, dass die Kristalle als Folge hoher Ætherkonzentration im Stadtgebiet zu betrachten seien. Tatsächlich schien das türkise Glühen nur im Stadtkern Cambridges aufzutreten. Sobald man die Innenstadt verließ, verschwand auch das Leuchten. Als keine schädliche Wirkung der Kristalle nachgewiesen werden konnte, wurde Entwarnung für die Bevölkerung gegeben. Die Stadt setzte ihr wucherndes Wachstum fort, und das überirdische Leuchten wurde heller. Wenn im Frühjahr und Herbst der Nebel aus den Flusswindungen der Cam kroch und den Ort einhüllte, glomm Cambridge gleich einer versunkenen Stadt am Grunde des Ozeans. Die Luftschiffe über dem türkisen Dunst wirkten dann wie Wale, die über Atlantis hinwegzogen; die Schnellbahnen auf ihren hochbeinigen Schienenkonstruktionen dagegen glichen Muränen, die sich durch ein aquatisches Höhlensystem schlängelten.

      Hätten die Bewohner der Metropole geahnt, was wirklich hinter den schwebenden Leuchtpartikeln steckte, sie alle