Mit Christoph dagegen verband sie nicht nur tiefe Zuneigung, sondern eine gemeinsame Verständigungsebene, die Worte und Erklärungen oft unnötig machte. Gleichaltrig und mit ähnlicher Sozialisation, harmonierten sie von Anfang an. Sogar ihre Nachnamen ergänzten sich zum Stabreim: Martens-Mahler. Er war Pädagoge durch und durch, ging seiner Arbeit am humanistischen Gymnasium mit Freude und Engagement nach. Die Verabschiedung in den Ruhestand wurde mit einem lachenden und einem weinenden Auge entgegengenommen. Aber der Ausblick auf ein Leben ohne Pflichten überwog, zumal sich auch Laura entschloss, aus dem Berufsleben auszuscheiden; sie war Partnerin in einer großen Kanzlei. Nun wollten sie das Leben genießen, Ausstellungen besuchen, sich ihrem Hobby, dem Kochen, intensiver widmen und natürlich reisen. Hatten sie bis jetzt die meisten Ferien in Frankreich verbracht, auch der Sprache wegen, stand jetzt Italien auf dem Programm. Den Spuren der Renaissance wollten sie folgen, Florenz, Venedig, Rom, Padua besuchen, wo diese Epoche in unzähligen Meisterwerken präsent ist.
Es hätte so schön werden können, aber das Schicksal machte einen Strich durch die Rechnung. Drei Monate später war er tot. An dem Tag, als Laura offiziell verabschiedet wurde. Als sie abends gegen zehn nach Hause kam, fand sie ihn auf dem Sofa, zur Seite gesunken, das Gesicht friedlich. Der Fernseher lief, ein halb leeres Weinglas stand auf dem Tisch.
Der Boden wankte unter ihren Füßen. Die Ambulanz konnte nichts mehr tun, der Tod war bereits vor einigen Stunden eingetreten. Es wurde eine Obduktion angeordnet, um Fremdverschulden oder Suizid auszuschließen. Ein geplatztes Aneurysma im Gehirn mit massiven Einblutungen war die Ursache gewesen.
Mit diesem Befund konnte Laura nur schwer umgehen. Sie machte sich Vorwürfe, nicht bei ihm gewesen zu sein. Kurz, nachdem sie das Haus verlassen hatte, war der Tod gekommen. Unfassbar, wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Nie hatte Christoph über Beschwerden geklagt. Erleichterung brachte ein Gespräch mit dem gemeinsamen Hausarzt, der erklärte, dass ein Aneurysma keine Symptome verursache und eine Rettung in diesem Fall an ein Wunder gegrenzt hätte. Rückblickend half ihr das zwar, trotzdem dauerte es noch Wochen, in denen sie mit dem Schicksal haderte, und ein weiteres halbes Jahr, bis sie wieder nach vorne schauen konnte. Alles ist wieder da beim Anblick von Christophs Bild. Als wäre es gestern geschehen.
Nach seinem unerwarteten Tod hat sie ein Ehrenamt angenommen, um die Leere zu füllen. Als Vorleserin in Altenheimen. Damit ist sie ziemlich ausgelastet, denn was zunächst nach nur wenigen Stunden in der Woche ausgesehen hat, nimmt mittlerweile viel Zeit in Anspruch. Schnell ging es nicht mehr nur um das Vorlesen, längst ist sie auch in die persönlichen Situationen der alten Menschen eingebunden, die sich nach Ansprache und Zuwendung sehnen. Laura hat sich dieser Aufgabe gerne angenommen, denn so trifft sie mit Leuten zusammen, die sie sonst niemals kennengelernt hätte, und erfährt Dankbarkeit und Vertrauen.
In Gedanken versunken, setzt sie sich auf eine Bank und legt den Kopf in den Nacken. Die Sonne hat schon etwas Kraft. Ein Eichhörnchen huscht nah vorbei, und im Baum unterhalten sich zwei Amseln. An diesem Ort ist das Sein genauso präsent wie die Vergänglichkeit. Ein inniges Gefühl von Dankbarkeit durchströmt sie und löst die traurigen Erinnerungen ab. Dankbarkeit, dass mit dem Frühling das Leben wiederkehrt und sie dabei sein darf. Sonne auf der Haut und das Zwitschern von Vögeln – das genügt, um glücklich zu sein. Was früher als Selbstverständlichkeit kaum wahrgenommen wurde, hat einen anderen Stellenwert erhalten. Das zunehmende Alter trägt dazu bei, und vor allem Christophs plötzlicher Tod. In jungen Jahren mochte sie den Herbst mit seinen schönen Farben am liebsten. Das hat sich gründlich geändert. Herbst hat nun mit Abschied zu tun, Frühling dagegen mit Neuanfang. Mittlerweile scheint ihr der Neuanfang nicht mehr so gewiss und wird deshalb umso wertvoller.
Sie beschließt, noch einen kleinen Spaziergang durch den schönen alten Teil des Friedhofs zu machen, in dem die großen Frankfurter Namen versammelt sind. Sie lässt das Fahrrad stehen und schlendert durch die Lebensbaumallee, nimmt dann kleinere Wege und bewegt sich kreuz und quer gemächlich auf den Ausgang zu, immer wieder stehenbleibend, um eine Inschrift zu entziffern oder eine Skulptur zu bewundern. Die wenigen milderen Tage haben den Schneeglöckchen gereicht, um Knospen anzusetzen. Das Leben fängt neu an – und zum ersten Mal seit Christophs Tod kann sie es wieder genießen.
Sie hat nicht auf den Weg geachtet und steht plötzlich vor einem Grabmal, das ihr während ihrer Spaziergänge bis jetzt entgangen ist. Auf einem Sockel aus Kalkstein liegt die lebensgroße Skulptur einer jungen Frau. Sie ist in ein leichtes Gewand gekleidet, das den Körperformen folgt und auch ihre Füße bedeckt. Der linke Arm liegt angewinkelt auf der Brust. Der Kopf mit dem kunstvoll geflochtenen Haar, in dem drei kleine Blüten stecken, wendet sich dem Betrachter zu. Das schöne Gesicht mit den geschlossenen Augen wirkt lebendig und entrückt zugleich, es könnte auch das Porträt einer Schlafenden sein. Obwohl die Verwitterung deutliche Spuren hinterlassen hat, wirkt das Grab gepflegt. Weder der üppig wachsende Efeu noch Flechten oder Moose überziehen die Liegende.
Der Sockel trägt eine Inschrift. Laura geht in die Knie, um sie zu entziffern, was sich sofort mit einem bohrenden Schmerz und deutlichem Knirschen rächt. Das Todesjahr 1923 fällt ihr als Erstes ins Auge. Es dauert eine Weile, bis der Text Gestalt annimmt, denn die eingemeißelten Buchstaben haben ihre Schärfe verloren. Als die Zusammenhänge klar werden, ist sie zutiefst berührt:
Warum muss sich die Anmut neigen
und gar so rasch im Tod vergehn?
Wird sie in einem höhern Reigen
zum Himmelsglanze neu erstehn,
da sie in diesen Erdenbahnen
das Glück, das ihr bemessen war,
erschöpft in einem seligen Ahnen?
Uns blieb ein Duft von ihrem Haar.
Langsam richtet sich Laura auf. Trotz wärmender Sonnenstrahlen und dicker Jacke überzieht sie eine Gänsehaut. Wieder betrachtet sie das ebenmäßige, ruhige Gesicht, dessen Konturen sich bereits zu verwischen beginnen. Nicht mehr lange, und die Züge werden unkenntlich sein. Wie die Tote in ihrem Grab. Fast hundert Jahre sind eine lange Zeit. Der Versuch, die Schönheit zu bewahren, ist zum Scheitern verurteilt.
Vielleicht findet sich auch auf der Rückseite noch eine Inschrift. Nur drei, vier Schritte ist sie gegangen, als sie wie angewurzelt stehen bleibt: Hinter der Tumba liegt im dichten Efeu eine Gestalt, eingehüllt in dünne Plastikfolie, auf der kleine Wasserperlen blitzen. Eine Puppe, versucht sie ihr pochendes Herz zu beruhigen, bereits ahnend, dass es genau das ist, wonach es aussieht: ein toter Körper. Panik steigt in ihr auf, sie schaut sich suchend um, horcht, aber nicht das kleinste Geräusch deutet auf die Anwesenheit eines Dritten hin. Ich muss die Polizei alarmieren, meldet sich die Vernunft, aber wie von unsichtbaren Fäden gezogen, nähert sie sich um zwei weitere Schritte. Jetzt ist die Gestalt deutlich zu erkennen, und ihr stockt der Atem. Die Folie bedeckt eine junge Frau, deren weißes Gewand bis zu den Füßen reicht. Das aschblonde Haar ist zum Zopf geflochten und um den Kopf gewunden, die linke Hand ruht auf der Brust. Eine leuchtend rote Rose steckt im Haar, ein aufreizender Kontrast zur Farblosigkeit der übrigen Erscheinung. Um keine Spuren zu zerstören, beugt sie sich so weit wie möglich vor, um die Züge der Toten zu studieren. Das Gesicht ist von verblüffendem Ebenmaß. Lichtbraune Wimpern säumen in perfektem Halbkreis die geschlossenen Augen. Der Mund ist rosig, und ein Hauch von Rosa liegt auch auf den Wangenknochen. Ohne die Blässe des übrigen Gesichts, von Hals und Hand, der wächsernen, unverkennbaren Blässe des Todes, und ohne die beperlte Folie, könnte auch eine Schlafende im Efeu liegen. Eine ganz junge Frau, fast noch ein Mädchen,