Mir gegenüber drei Dicke: riesige, massige Kerle, bei Schweinswurst mit Püree, Schwarzbrot und Butter. Zwei mit großen Gläsern Lagerbier, außerdem steht eine Flasche Rotwein auf dem Tisch, die sie sich teilen. Ich muss langsam an meinen neuen Film denken, aber The Sleep Thief lässt mich nicht los. Während ich noch die ganze Zeit von Tanja träume, läuft der Film, unser Film, weiter, als würden wir die verlorene letzte Filmrolle abspielen. Sie haben gerade Nachspeise und noch mehr Bier bestellt. Ich versuche, mich in der Rolle von Pascals Stiefvater zu sehen: Mit der Tatsache, dass wir künftig bei allen Treffen zu dritt wären, habe ich mich abgefunden. Vielleicht könnten wir ihm einen Internatsplatz besorgen. Benji und Max sind in seinem Alter von zu Hause weggekommen und haben sich all die Jahre in Farnham Hall absolut wohlgefühlt, wie es scheint – wobei mir einfällt: Wo stecken sie jetzt eigentlich? Was machen sie? Mein Caesar-Salat mit Lachs ist gekommen: von Lachs kaum eine Spur.
Café Méridien, Cannes. Hier habe ich gegessen, als ich zum ersten Mal in Cannes war, mit Two-and-a-Half Grand. Ich erinnere mich genau an dieses kleine Bistro, an das Gefühl unbändiger Zuversicht damals – mein erster Film, und ausgewählt für »Un Certain Regard« –, nichts konnte mich aufhalten. Ich weiß noch, wie ich einmal am frühen Morgen an dem Lokal vorbeikam und stehen blieb, um dem Patron zuzusehen, der den Bürgersteig spritzte und dann die Tische eindeckte. Heute früh sah ich einen Mann mit finsterem Blick genau bei der gleichen Arbeit, und mir wurde plötzlich auf merkwürdige Weise bewusst, dass ich vor all den Jahren auf demselben Fleck gestanden und das gleiche Ritual verfolgt hatte, dass sich hier zufällig ein Lebenskreis geschlossen hat, und das punktgenau. Rückblende: Ich war neunundzwanzig Jahre alt. Benji war zwei, Max war unterwegs … Zu denken, dass Annie und ich damals glücklich waren …
Tanja hat aus Prag angerufen, wo sie dreht. Es dauert länger, und sie schafft es wahrscheinlich nicht zum Screening. Herrgott noch mal! Es steht in ihrem Scheißvertrag, dass sie für PR beurlaubt werden muss! Ich muss beim Studio anrufen: The Sleep Thief beim Filmfestival von Cannes ohne Tanja Baiocchi – wie sieht das aus? Welche Botschaft ist das denn?
Das kleine Hotel, in dem ich immer absteige, heißt jetzt Hotel Carlone. In einem Videoverleih fand ich ein altes Video von Dix-Mille Balles (Two-and-a-Half Grand). Ich hätte fast geheult.
Welche Farbe hat Tanjas Haar? Karamell. Butterscotch. Fudge. Toffee … Alles essbar, alles Süßigkeiten.
Idee für den nächsten Film, der Blue on Blue heißen soll – ein Ausdruck bei der British Army, wenn man aus Versehen auf die eigenen Leute schießt.
Betrachtungen über den Nabel: eine Narbe, mit der jedes menschliche Wesen herumläuft … Der Schrei eines Babys braucht keine Übersetzung … Ein Schrei hat keinen Akzent … Ein Gähnen wird überall auf der Welt verstanden … Die banalen Tatsachen des Lebens sind einfach nur wahr, trotz ihrer Banalität.
Habe Terry Mulveheys neuen Film gesehen, The Last Rebel (warum hatte er es in die Director’s Fortnight geschafft – und ich nicht?). Ein absolut lachhafter und doch irgendwie schöner Film. Die Story von Wings of a Dove auf den Amerikanischen Bürgerkrieg übertragen. Es wurde nicht einmal versucht, die Frisuren der Männer an das neunzehnte Jahrhundert anzupassen. Für einen schönen Shot verzichtet Mulvehey auf alles: narrative Glaubwürdigkeit, Figurenentwicklung, Tempo, Spannung. Alles wird dem schönen Shot geopfert. Kompositorisch ist der Film ohne Makel, aber als reale Story über reale Menschen – rien. Eitelkeit und Nichtigkeit. Tanja hat die ganze Woche nicht zurückgerufen. Habe ihr eine SMS geschickt, mit der Frage, wer Pascals Vater sei. Ich fürchte, das war ein kapitaler Fehler.
The Duke of Kent wurde in meiner Abwesenheit in The Flaming Terrapin umgetauft. Seltsamer Name für ein Pub, aber was weiß ich? Wir haben jetzt Musik (fast übertönt vom kollektiven Gebrüll der Gäste), wir haben jetzt stumme Fernseher, die ein regengepeitschtes Golfturnier zeigen, mit Golfern, von denen nur die bunten Regenschirme sichtbar sind. Ich schiebe mein Thai-Hühnchen vom Holzkohlengrill auf dem Teller hin und her und bestelle noch ein Glas goldenen, sonnengesättigten australischen Chardonnay (mein drittes).
Es ist Freitag, Lunchtime, und man spürt das wilde Aufkeimen der Wochenend-Fressgelüste. Diese jungen Leute in ihren besten Jahren fressen und saufen und qualmen, als ginge es um ihr Leben. Und natürlich geht es um ihr Leben, wenn sie nicht aufhören, in dieser Weise zu fressen, zu saufen und zu qualmen. Statt Rule Britannia Fool Britannia. Was ist bloß mit uns los? Wenn ich mir die Leute hier ansehe, sind wir eine Nation von maßlosen Gierhälsen geworden. Dralle Girls trinken literweise Stout und extrastarkes Lagerbier, junge Kerle mit Ziegenbart und geschorenen Köpfen beugen sich über vollgeladene Teller, schaufeln sich die Pasteten und Burger, Spareribs und Bratwürste rein, stopfen sich die Backen und Wänste voll. Ich lasse mein Thai-Hühnchen liegen.
Eben habe ich mich zur Theke durchgekämpft und mir noch ein randvolles Glas Wein geholt. Jetzt merke ich mit Schrecken, dass es »große« Gläser sind, die ich getrunken habe, das heißt, jedes Glas entspricht zwei normalen Gläsern Wein. Kein Wunder, dass ich mich ein bisschen aufgeputscht und taumelig fühle.
Wie werde ich ein erfolgreicher Regisseur, Seite eins, erster Absatz, Regel Nummer eins: Verliebe dich niemals in die Hauptdarstellerin.
Vier biedere japanische Geschäftsleute am Nebentisch haben mich eben gebeten, ein Foto von ihnen zu machen, und ich tat ihnen den Gefallen. Haben wohl kaum geahnt, wer es war, der auf den Auslöser drückte. Ist irgendwas seltsam an diesem Bildmotiv? Vielleicht sollte ich es für die Schlussszene von Blue on Blue verwenden. Einfach die vier Japaner in die Cafészene stecken, bevor sich der Hauptheld erschießt – wie sie sich im Hintergrund fotografieren –, und unkommentiert lassen. Cool.
Zwei ausländische Mädchen – Au-Pairs? Touristinnen? –, eine deutsch, die andere aus Belgien(?), sprechen neben mir am Nachbartisch Englisch, unbeeindruckt von meinem Alkoholkonsum und meiner Nähe. Ich erfahre, dass eine von ihnen, die Deutsche, endlich eine Beziehung mit einem Mann hat, die schon einen vollen Monat hält. Die Freundin zeigt echte, unverfälschte Freude. (Nebenbei: Die Glückseligkeit von Frauen, wenn die Freundin einen Mann findet – kein Gefühl, das beim anderen Geschlecht eine Entsprechung hätte.) Diese Mädchen haben beide einen Salatteller bestellt, dazu Wasser die eine, Orangensaft die andere. Das ist ihr Lunch – erstaunlich. Was lockt sie in ein hektisches, lärmiges Fresslokal wie dieses? Diese Mädchen gehören zu einer neuen, internationalen Spezies, sind auf der ganzen Welt zu Hause, sprechen ein gutes, wenn auch nicht akzentfreies Englisch, eine Art fließendes Euro-Englisch: »I am very bad with separation«, sagt die Deutsche, als sie schon im Gehen begriffen ist. Kein Engländer würde das so sagen, aber man versteht es sofort.
Leo Winteringham hat Blue on Blue abgelehnt.
Sind nicht die einzigen Wahrheiten, für die man sich wirklich verbürgen kann, diejenigen, die man selbst tief empfindet? »Ich bin glücklich« ist etwas, was man nur für sich selbst feststellen kann. Absolut. Alle anderen Interpretationen der Welt, die über einen selbst hinausgehen, sind daher suspekt, bloße Vermutungen und Folgerungen. »Tanja Baiocchi ist eine unfassbar schöne Frau«, »The Sleep Thief ist ein außergewöhnlich schlechter Film« – ich verliere den Faden, der schwere australische Wein macht sich bemerkbar, fordert seinen Tribut. Wie ging diese Zeile bei Tennyson? Der Mensch bestellt das Feld und legt sich in die Grube kann man zu intelligent sein für den Erfolg Leo war meine letzte Hoffnung und nach vielen Sommern stirbt der Schwan aber ich weiß nichts nichts keine Gewissheiten zu haben kann sehr anregend sein kreativ diskutieren was genau ich wirklich weiß Tanja Baiocchi ist zu Pierre-Henri Duprez zurückgezogen ich bin nicht glücklich auch ich bin schlecht in Trennung das Problem mit mir ist dass ich nie [Notizbuch endet hier.]
Eine Heimsuchung
I Los Angeles
Ich heiße Alexander Rief. Ich heiße Alexander Rief. Ich heiße Alexander Rief – und ich glaube, ich werde verrückt.«
Ich saß in der Business Class eines Jumbojets auf dem Flug nach L.A., als ich diese Sätze in mein Notizheft schrieb – wohl weil ich glaubte, dass mir die einfache Wiederholung meines Namens