Ausweitung der Kampfzone. Мишель Уэльбек. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Мишель Уэльбек
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783803141828
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dem inneren Auge des Lesers differenzierte Figuren entstehen sollen, ist mir immer als, entschuldigen Sie, wenn ich das sage, reines Gewäsch erschienen. Daniel, der mit Hervé befreundet ist, aber eine gewisse Abneigung gegen Gérard verspürt. Das Phantom Paul, das sich in Virginia verkörpert; die Venedigreise meiner Kusine ... Damit könnte man Stunden zubringen. Was dasselbe ist, wie wenn man Hummer beobachtet, die in einem Aquarium aufeinander herumkriechen (es genügt dazu, in ein Fischrestaurant zu gehen). Im Übrigen verkehre ich wenig mit Menschen.

      Im Unterschied dazu werde ich, um mein Ziel zu erreichen, das mehr ins Philosophische geht, vor allem Streichungen vornehmen müssen. Ich werde vereinfachen müssen. Schlag um Schlag eine Menge Details vernichten. Dabei wird mir das simple Spiel der Bewegung der Zeitgeschichte helfen. Vor unseren Augen uniformiert sich die Welt; die Telekommunikation schreitet unaufhaltsam voran; neue Apparaturen bereichern das Wohnungsinventar. Zwischenmenschliche Beziehungen werden zunehmend unmöglich, was die Zahl der Geschichten, aus denen sich ein Leben zusammensetzt, entsprechend verringert. Und langsam erscheint das Antlitz des Todes in seiner ganzen Herrlichkeit. Das dritte Jahrtausend lässt sich gut an.

      Vier

      Bernard, oh Bernard

      Als ich am nächsten Montag wieder ins Büro kam, erfuhr ich, dass meine Firma soeben ein Software-Paket an das Landwirtschaftsministerium verkauft hatte und dass ich dazu bestimmt worden war, die Einführung zu übernehmen. Dies wurde mir von Henry La Brette angekündigt (ihm liegt viel an dem »y«, wie auch an der Trennung seines Familiennamens). Henry La Brette ist wie ich dreißig Jahre alt und mein unmittelbarer Vorgesetzter; unsere Beziehungen sind im Allgemeinen von einer dumpfen Feindseligkeit geprägt. Als wäre es ihm ein persönliches Vergnügen, mir Ärger zu machen, hat er mir gleich zur Begrüßung eröffnet, dass dieser Vertrag mehrere Dienstreisen nötig machen würde: nach Rouen, nach La Roche-sur-Yon und wer weiß wohin noch. Diese Reisen sind für mich immer ein Albtraum gewesen; Henry La Brette weiß das genau. Ich hätte antworten können: »Na gut, dann kündige ich.« Aber ich habe es nicht getan.

      Lange bevor das Wort in Mode kam, hat meine Firma eine regelrechte »Unternehmenskultur« entwickelt (Schaffung eines Logos, Verteilung von Sweat-Shirts an die Angestellten, Motivationsseminare in der Türkei). Wir sind ein leistungsstarker Betrieb, der auf seinem Gebiet einen beneidenswerten Ruf genießt; in jeder Hinsicht ein guter Laden. Es versteht sich von selbst, dass ich hier nicht aus einer Laune heraus kündigen kann.

      Es ist zehn Uhr morgens. In einem weißen, ruhigen Büro sitze ich einem Typ gegenüber, etwas jünger als ich, der vor kurzem in die Firma eingetreten ist. Ich glaube, er heißt Bernard. Seine Mittelmäßigkeit ist schwer zu ertragen. Er redet ununterbrochen von Geldanlagen und Gewinnchancen: Investmentgesellschaften, Pfandbriefe, Bausparverträge ... alles wird durchgegangen. Er rechnet mit einem Zinssatz, der eine Spur höher liegt als die Inflationsrate. Langsam geht er mir auf die Nerven; es gelingt mir nicht, eine Antwort zu finden. Sein Schnurrbart bewegt sich.

      Als er das Büro verlässt, kehrt die Stille zurück. Wir arbeiten in einem vollkommen verwüsteten Stadtteil, der vage an eine Mondlandschaft erinnert. Irgendwo im 13. Arrondissement. Wenn man mit dem Bus kommt, könnte man wahrhaftig meinen, der dritte Weltkrieg sei gerade vorbei. Aber nein, es handelt sich bloß um einen Sanierungsplan.

      Unsere Fenster gehen auf eine nahezu grenzenlose, mit Bretterzäunen gespickte Schlammwüste. Ein paar Betonskelette. Stillstehende Kräne. Die Atmosphäre ist ruhig und kalt.

      Bernard kommt zurück. Um die Stimmung aufzuheitern, erzähle ich ihm, dass es in dem Haus, wo ich wohne, schlecht riecht. Mir ist aufgefallen, dass die meisten Leute diese Stinkgeschichten gern hören; und tatsächlich habe ich heute Morgen im Treppenhaus einen widerlichen Gestank gerochen. Was macht bloß die Putzfrau, die sonst immer so eifrig ist?

      Er sagt: »Da muss irgendwo eine tote Ratte sein.« Die Vorstellung scheint ihn, weiß Gott warum, zu amüsieren. Sein Schnurrbart bewegt sich leicht.

      Armer Bernard, in gewisser Weise. Was kann er schon mit seinem Leben anfangen? CDs in der FNAC kaufen? Ein Typ wie er müsste eigentlich Kinder haben. Hätte er Kinder, könnte man hoffen, dass am Ende noch etwas zustande kommt aus diesem Gewimmel von kleinen Bernards. Aber nein, er ist nicht einmal verheiratet. Bloß eine trockene Frucht.

      Im Grunde ist er nicht einmal zu bedauern, der gute, liebe Bernard. Ich glaube sogar, dass er glücklich ist – in dem Maß, das ihm zusteht, natürlich. In seinem Bernard-Maß.

      Fünf

      Kontaktaufnahme

      Später vereinbarte ich einen Termin im Landwirtschaftsministerium. Am Telefon war ein Mädchen namens Catherine Lechardoy. Das Software-Paket hingegen nannte sich »Sycomore«. Die richtige Sykomore ist ein von den Möbeltischlern geschätzter Baum, der außerdem einen süßen Saft liefert und in bestimmten Gegenden der gemäßigt kalten Zone wächst; er ist besonders in Kanada verbreitet. Das Sycomore-Programm ist in Pascal geschrieben, mit bestimmten Routinen in C++. Pascal ist ein französischer Schriftsteller des 17. Jahrhunderts, Verfasser der berühmten Pensées. Zugleich ist es eine leistungsstark strukturierte, besonders für statistische Erhebungen geeignete Programmiersprache, die zu beherrschen ich in der Vergangenheit gelernt hatte. Das Sycomore-Programm sollte dabei helfen, den Landwirten die Regierungszuschüsse auszuzahlen, wofür Catherine Lechardoy zuständig war – auf der Ebene der Informatik, versteht sich. Wir hatten uns bisher noch nie getroffen. Es handelte sich also um eine »erste Kontaktaufnahme«.

      Das Faszinierende an unserer Tätigkeit im EDV-Engineering ist zweifelsohne der Kontakt zur Kundschaft; jedenfalls pflegen das die Verantwortlichen des Unternehmens bei einem Glas Feigenschnaps zu betonen (beim letzten Seminar im Village-Club in Kuşadasi habe ich manchmal ihre Swimmingpoolgespräche belauscht).

      Ich hingegen sehe dem ersten Kontakt zu einem neuen Kunden stets mit leichter Besorgnis entgegen. Man stößt da auf verschiedenartige Wesen, die in einer vorgegebenen Struktur organisiert sind und an deren Gegenwart man sich wird gewöhnen müssen – eine wenig erfreuliche Aussicht. Natürlich hat mich die Erfahrung bald gelehrt, dass ich ohnehin nur Leute treffen muss, die vielleicht nicht alle ganz gleich sind, sich aber in Gewohnheiten, Meinungen, Geschmäckern und allgemeiner Lebenshaltung weitgehend ähneln. Daher gibt es eigentlich nichts zu befürchten, zumal der rein berufliche Charakter der Begegnung in der Regel ihre Harmlosigkeit garantiert. Trotzdem hatte ich auch Gelegenheit, zu beobachten, dass sich die Menschen immer wieder gern durch ausgeklügelte, meist ärgerliche Variationen, Defekte, Charakterzüge und so weiter hervortun – natürlich um ihr Gegenüber zu nötigen, sie als vollwertige Individuen zu behandeln. So spielt der eine gern Tennis, der andere schwingt sich aufs Pferd, der dritte entpuppt sich als Golfspieler. Es gibt Manager, die schwärmen für Heringsfilets; andere verabscheuen sie. So viele Schicksale, so viele Lebensläufe. Obwohl der allgemeine Rahmen eines »ersten Kontakts mit dem Kunden« klar umrissen ist, bleibt leider doch immer ein Quäntchen Ungewissheit.

      In diesem Fall war Catherine Lechardoy, als ich im Büro 6017 erschien, gar nicht da. Sie habe, wurde mir mitgeteilt, »noch eine Kleinigkeit im Hauptcomputerraum zu erledigen«. Man bat mich, Platz zu nehmen und auf sie zu warten, was ich tat. Das Gespräch drehte sich um das gestrige Attentat auf den Champs-Élysées. Jemand hatte unter einer Sitzbank eines Cafés eine Bombe versteckt. Zwei Personen kamen ums Leben. Einer dritten wurden die Beine abgetrennt und das halbe Gesicht weggerissen; sie bleibt für den Rest ihres Lebens verstümmelt und blind. Ich erfuhr, dass es sich nicht um das erste Attentat handelte; wenige Tage zuvor war in einem Postamt nahe dem Rathaus eine Bombe explodiert und hatte eine etwa fünfzigjährige Frau zerfetzt. Ich erfuhr auch, dass diese Bomben von arabischen Terroristen gelegt worden waren, die die Freilassung anderer arabischer Terroristen verlangten, die in Frankreich wegen mehrerer Morde im Gefängnis saßen.

      Gegen siebzehn Uhr musste ich aufs Polizeikommissariat, um den Diebstahl meines Wagens zu melden. Catherine Lechardoy war nicht gekommen, und an dem Gespräch hatte ich mich kaum beteiligt. Die Kontaktaufnahme wird wohl an einem anderen Tag stattfinden.

      Der Inspektor, der meine Aussage tippte, war ungefähr in meinem Alter. Offensichtlich stammte er aus der Provence; er trug einen Ehering.