Tugan-Baranowski geht natürlich auch hier weiter als die anderen. In seinem Gefallen an Paradoxen leistet er sich sogar den Witz, mathematisch den Nachweis zu liefern, daß die Akkumulation des Kapitals und die Produktionserweiterung sogar bei absolutem Rückgang der Konsumtion möglich sei. Hier ertappt ihn K. Kautsky bei einem wissenschaftlich wenig salonfähigen Manöver, nämlich dabei, daß er seine kühne Deduktion ausschließlich auf einen spezifischen Moment: den Übergang von der einfachen zur erweiterten Reproduktion, zugeschnitten hat, einen Moment, der theoretisch nur als Ausnahme gedacht werden kann, praktisch aber überhaupt nicht in Betracht kommt.181
Was das Tugansche "Grundgesetz" betrifft, so erklärt es Kautsky für bloßen Schein, der sich deshalb ergäbe, weil Tugan-Baranowski nur die Gestaltung der Produktion in den alten Ländern der kapitalistischen Großindustrie ins Auge fasse: "Es ist richtig", sagt Kautsky, "daß die Zahl der Produktionsstätten, in denen die Produkte direkt für den persönlichen Konsum fertiggemacht werden, mit fortschreitender Arbeitsteilung verhältnismäßig immer mehr sinkt gegenüber den anderen Produktionsstätten, die jenen und einander Werkzeuge, Maschinen, Rohmaterialien, Transportmittel usw. liefern. Während in der ursprünglichen Bauernwirtschaft der Flachs von dem Betrieb, der ihn gewann, auch mit eigenen Werkzeugen verarbeitet und für den menschlichen Verbrauch fertiggemacht wurde, sind jetzt vielleicht Hunderte von Betrieben an der Herstellung eines Hemds beteiligt, an der Herstellung der Rohbaumwolle, der Produktion der Eisenschienen, Lokomotiven und Waggons, die sie nach dem Hafen bringen" usw. "Bei der internationalen Arbeitsteilung kommt es dahin, daß einzelne Länder - die alten Industrieländer - ihre Produktion zum persönlichen Konsum nur noch langsam ausdehnen können, während die Produktion von Produktionsmitteln bei ihnen noch rasche Fortschritte macht und für den Pulsgang ihres ökonomischen Lebens viel bestimmender wird als die der Produktion von Konsumtionsmitteln. Wer die Sache nur vom Standpunkt der betreffenden Nation ansieht, kommt dann leicht zur Ansicht, die Produktion von Produktionsmitteln könne dauernd rascher wachsen als die von Konsumtionsmitteln, sie sei an diese nicht gebunden."
Letzteres, d.h. die Ansicht, als sei die Produktion von Produktionsmitteln von der Konsumtion unabhängig, ist natürlich eine vulgärökonomische Luftspiegelung Tugan-Baranowskis. Nicht so die Tatsache, mit der er diesen Trugschluß begründen will: das raschere Wachstum der Abteilung der Produktionsmittel im Vergleich zu derjenigen der Konsumtionsmittel. Diese Tatsache läßt sich gar nicht bestreiten, und zwar nicht bloß für alte Industrieländer, sondern überall, wo technischer Fortschritt die Produktion beherrscht. Auf ihr beruht auch das Marxsche Fundamentalgesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate. Aber trotzdem oder gerade deshalb ist es ein großer Irrtum, wenn Bulgakow, Iljin und Tugan-Baranowski wähnen, in diesem Gesetz das spezifische Wesen der kapitalistischen Wirtschaft als einer, für die Produktion Selbstzweck, menschliche Konsumtion bloß Nebensache sei, entschleiert zu haben.
Das Wachstum des konstanten Kapitals auf Kosten des variablen ist nur der kapitalistische Ausdruck der allgemeinen Wirkungen der steigenden Produktivität der Arbeit. Die Formel c > v, aus der kapitalistischen Sprache in die Sprache des gesellschaftlichen Arbeitsprozesses übertragen, heißt nur soviel: je höher die Produktivität der menschlichen Arbeit, um so kürzer die Zeit, in der sie ein gegebenes Quantum Produktionsmittel in fertige Produkte verwandelt.182 Das ist ein allgemeines Gesetz der menschlichen Arbeit, das ebensogut unter allen vorkapitalistischen Produktionsformen Geltung hatte, wie es in der Zukunft in der sozialistischen Gesellschaftsordnung gelten wird. Ausgedrückt in der sachlichen Gebrauchsgestalt des gesellschaftlichen Gesamtprodukts, muß sich dieses Gesetz äußern in einer immer größeren Verwendung der gesellschaftlichen Arbeitszeit auf Herstellung von Produktionsmitteln im Vergleich zur Herstellung von Konsummitteln. Ja, diese Verschiebung müßte in einer sozialistisch organisierten, planmäßig geleiteten gesellschaftlichen Wirtschaft noch bedeutend rascher vor sich gehen als in der gegenwärtigen kapitalistischen. Erstens wird die Anwendung der rationellen wissenschaftlichen Technik auf breitester Grundlage in der Landwirtschaft erst möglich, wenn die Schranken des privaten Grundbesitzes beseitigt sind. Daraus wird sich auf einem großen Gebiete der Produktion eine gewaltige Umwälzung ergeben, die im allgemeinen Resultat auf eine umfangreiche Verdrängung der lebendigen Arbeit durch Maschinenarbeit hinausläuft und die Inangriffnahme technischer Aufgaben größten Stils herbeiführen wird, für die heute keine Bedingungen vorhanden sind. Zweitens wird die Anwendung der Maschinerie überhaupt im Produktionsprozeß auf eine neue ökonomische Basis gestellt werden. Gegenwärtig tritt die Maschine nicht mit der lebendigen Arbeit, sondern bloß mit dem bezahlten Teil der lebendigen Arbeit in Konkurrenz. Die unterste Grenze der Anwendbarkeit der Maschine in der kapitalistischen Produktion ist mit den Kosten der durch sie verdrängten Arbeitskraft gegeben. Das heißt, für den Kapitalisten kommt eine Maschine erst dann in Betracht, wenn ihre Produktionskosten - bei gleicher Leistungsfähigkeit - weniger betragen als die Löhne der durch sie verdrängten Arbeiter. Vom Standpunkte des gesellschaftlichen Arbeitsprozesses, der allein in der sozialistischen Gesellschaft maßgebend sein kann, muß die Maschine nicht mit der zur Erhaltung der Arbeitenden notwendigen Arbeit, sondern mit der von ihnen geleisteten Arbeit in Konkurrenz treten. Das besagt soviel, daß für eine Gesellschaft, in der nicht Profitstandpunkt, sondern Ersparnis der menschlichen Arbeit maßgebend ist, die Anwendung der Maschine schon dann ökonomisch geboten wäre, wenn ihre Herstellung weniger Arbeit kostet, als sie an lebendiger Arbeit erspart. Wir sehen davon ab, daß in vielen Fallen, wo die Gesundheit und dergleichen Rücksichten auf die Interessen der Arbeitenden selbst in Frage kommen, die Anwendbarkeit der Maschine in Betracht kommen kann, auch wenn sie nicht einmal diese ökonomische Minimalgrenze der Ersparnis erreicht. Jedenfalls ist die Spannung zwischen der ökonomischen Anwendbarkeit der Maschinen in der kapitalistischen und in der sozialistischen Gesellschaft mindestens gleich der Differenz zwischen der lebendigen Arbeit und ihrem bezahlten Teil, d.h., sie kann genau gemessen werden durch den ganzen kapitalistischen Mehrwert. Daraus folgt, daß mit der Beseitigung der kapitalistischen Profitinteressen und der Einführung der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit die Grenze für die Anwendung der Maschinen sich plötzlich um die ganze Größe des kapitalistischen Mehrwerts hinausschieben, ihrem Eroberungszug sich ein enormes, unübersehbares Feld eröffnen wird. Es müßte sich dann handgreiflich zeigen, daß die kapitalistische Produktionsweise, die angeblich zur äußersten Entwicklung der Technik anstachelt, tatsächlich in dem ihr zugrunde liegenden Profitinteresse eine hohe soziale Schranke für den technischen Fortschritt aufrichtet und daß mit der Niederreißung dieser Schranke der technische Fortschritt mit einer Macht vorwärtsdrängen wird, gegen die die technischen Wunder der kapitalistischen Produktion wie ein Kinderspiel erscheinen dürften.
Ausgedrückt in der Zusammensetzung des gesellschaftlichen Produkts, kann dieser technische Umschwung nur bedeuten, daß die Produktion von Produktionsmitteln in der sozialistischen Gesellschaft - an Arbeitszeit gemessen - noch unvergleichlich rascher anwachsen muß im Vergleich zur Produktion von Konsummitteln als heute. Und so stellt sich das Verhältnis der beiden Abteilungen der gesellschaftlichen Produktion, in dem die russischen Marxisten einen spezifischen Ausdruck der kapitalistischen Verworrenheit, der Mißachtung für die menschlichen Konsumtionsbedürfnisse gepackt zu haben wähnten, vielmehr als der genaue Ausdruck der fortschreitenden Beherrschung der Natur durch die gesellschaftliche Arbeit heraus, ein Ausdruck, der am ausgeprägtesten just dann hervortreten müßte, wenn die