Etwas Besonderes mußte passiert sein, wenn die sämtlichen Neuyorker Zeitungen diesem Ergebnis übereinstimmend ihre erste Seite widmeten und mit der Ausgabe von Extrablättern fortfuhren. – Noch ehe die letzten Exemplare der eben erschienenen Ausgabe ihre Käufer gefunden hatten, stürmte eine neue Schar von Zeitungsboys mit der nächsten Ausgabe der Morgenblätter den Broadway entlang.
»Das Rätsel von Sing-Sing! Sing-Sing, 6 Uhr 25 Minuten. Elektrische Station von Sing-Sing zerstört. Der Verurteilte heißt Logg Sar. Herkunft unbekannt. Kein amerikanischer Bürger! Zum Tode verurteilt wegen versuchter Sprengung einer Schleuse am Panamakanal!«
»Sing-Sing, 6 Uhr 42 Minuten. Der Verurteilte entflohen! Die Riemen, mit denen er an den Stuhl gefesselt war, zerschnitten!«
»Sing-Sing, 6 Uhr 50 Minuten. Ein Zeuge als Komplice! Allem Anschein nach ist der Delinquent mit Hilfe eines der zwölf Zeugen der Elektrokution entflohen.«
»Sing-Sing, 7 Uhr. Letzte Nachrichten aus Sing-Sing. Im Auto entflohen!! Ein unglaubliches Stück! Durch Augenzeugen festgestellt, daß der Delinquent, kenntlich durch seinen Hinrichtungsanzug, in Begleitung des Zeugen Williams in ein vor dem Tor stehendes Auto gestiegen. Fuhren in rasender Fahrt davon. Jede Spur fehlt. Gefängnisverwaltung und Polizei ratlos.«
Mit kurzem scharfen Ruck blieb ein Auto stehen, das in den Broadway an der Straßenecke einbog, wo das Flat-Iron Building seinen grotesken Bau in den Äther reckt. Der Insasse des Wagens riß einem der Boys das zweite Extrablatt aus der Hand und durchflog es, während das Auto in der Richtung nach der Polizeizentrale weiterrollte. Ein nervöses Zucken lief über die Züge des Lesenden. Es war ein Mann von unbestimmtem Alter. Eine jener menschlichen Zeitlosen, bei denen man nicht sagen kann, ob sie vierzig oder sechzig Jahre alt sind.
Vor dem Gebäude der Polizeizentrale hielt der Wagen. Noch ehe er völlig stand, sprang der Insasse heraus und eilte über den Bürgersteig der Eingangspforte zu. Seine Kleidung war offensichtlich in einem erstklassigen Atelier gefertigt. Doch hatten alle Künste des Schneiders nicht vermocht, Unzulänglichkeiten der Natur vollständig zu korrigieren. Ein scharfer Beobachter mußte bemerken, daß die rechte Schulter ein wenig zu hoch, die linke Hüfte etwas nach innen gedrückt war, daß das linke Bein beim Gehen leicht schleifte.
Er trat durch die Pforte. Hastig kreuzte er die verzweigten Korridore, bis ihm an einer doppelten Tür ein Policeman in den Weg trat. Der typische sechsfüßige Irländer mit Gummiknüppel und Filzhelm.
»Hallo, Sir! Wohin?«
Ein unwilliges Murren war die Antwort des eilig Weiterschreitenden.
»Stop, Sir!«
Breit und massig schob der irische Riese sich ihm in den Weg und hob den Gummiknüppel in nicht mißzuverstehender Weise.
Heftig riß der Besucher eine Karte aus seiner Tasche und übergab sie dem Beamten.
»Zum Chef, sofort!«
Mehr noch als das herrisch gesprochene Wort veranlaßte der funkelnde Blick den Policeman, mit großer Höflichkeit die Tür zu öffnen und den Fremden in ein saalartiges Anmeldezimmer zu geleiten.
»Edward F. Glossin, medicinae doctor« stand auf dem Kärtchen, das der Diener dem Polizeipräsidenten MacMorland auf den Schreibtisch legte. Der Träger des Namens mußte ein Mann von Bedeutung sein. Kaum hatte der Präsident einen Blick auf die Karte geworfen, als er sich erhob, aus der Tür eilte und den Angemeldeten in sein Privatkabinett geleitete.
»Womit kann ich Ihnen dienen, Herr Doktor?«
»Haben Sie Bericht aus Sing-Sing?«
»Nur, was die Zeitungen melden.«
»Bieten Sie alles auf, um der Entflohenen habhaft zu werden. Wenn die Polizeiflieger nicht ausreichen, requirieren Sie Armeeflieger! Ihre Vollmacht langt doch für die Requisition?«
»Jawohl, Herr Doktor.«
»Die Flüchtigen müssen vor Einbruch der Dunkelheit gefaßt sein. Das Staatsinteresse erfordert es. Sie haften dafür.«
»Ich tue, was ich kann.« Der Polizeichef war durch den ungewöhnlich barschen Ton des Besuchers verletzt, und dies Gefühl klang aus seiner Antwort heraus.
Dr. Glossin runzelte die Stirn. Antworten, die nach Widerspruch und Verklausulierungen klangen, waren nicht nach seinem Geschmack.
»Hoffentlich entspricht Ihr Können unseren Erwartungen. Sonst … müßte man sich nach einem Mann umsehen, der noch mehr kann. Lassen Sie nach Sing-Sing telephonieren! Professor Curtis soll hierherkommen. Ihnen in meiner Gegenwart Bericht über die Vorgänge erstatten.«
Der Präsident ergriff den Apparat und ließ die Verbindung herstellen.
»Wann kann Curtis hier sein?«
»In fünfzehn Minuten.«
Dr. Glossin strich sich über die hohe Stirn und durch das volle, kaum von einem grauen Faden durchzogene dunkle Haupthaar, das glatt nach hinten gestrichen war.
»Ich möchte bis dahin allein bleiben. Könnte ich …«
»Sehr wohl, Herr Doktor. Wenn ich bitten darf …« Der Präsident öffnete die Tür zu einem kleinen Kabinett und ließ Dr. Glossin eintreten.
»Danke, Herr Präsident … Daß ich es nicht vergesse! 200 000 Dollar Belohnung dem, der die Flüchtlinge zurückbringt. Lebendig oder tot!«
»200 000 …?« MacMorland trat erstaunt einen Schritt zurück.
»200 000, Herr Präsident! Genau, wie ich sagte. Anschläge mit der Belohnung in allen Städten!«
Der Präsident zog sich zurück. Kaum hatte sich die Tür geschlossen, als plötzlich alle Straffheit aus den Zügen Dr. Glossins wich und einem erregten, sorgenden Ausdruck Platz machte. Mit einem leichten Stöhnen ließ er sich in einen Sessel fallen und bedeckte mit der Rechten die Augen, während die Linke nervös über das narbige Leder der Lehne glitt. Wie unter einem inneren Zwange kamen abgerissene Worte, halb geflüstert und stoßweise, von seinen Lippen.
»Stehen die Toten wieder auf? … Bursfelds Sohn! Kein Zweifel daran … Wer rettete ihn? … Wer war dieser Williams? Der Vater selbst? … Nur der besäße die Macht, ihn zu retten … Er war es sicher nicht … Die Riegel des Towers sind fester als die von Sing-Sing … Wer wüßte noch um die geheimnisvolle Macht? … Ah, Jane! … Sie könnte es offenbaren. Der Versuch muß gemacht werden … Unmöglich, jetzt noch nach Trenton zu fahren … Ich muß bis zum Abend warten … Ein unerträglicher Gedanke. Acht Stunden in Ungewißheit …«
Der Sprecher fuhr empor und warf einen Blick auf sein Chronometer.
»Ruhe, Ruhe! Noch zehn Minuten für mich.«
Einem kleinen Glasröhrchen entnahm er sorgfältig abgezählt zwei winzige weiße Pillen und verschluckte sie. Beinahe momentan wich die nervöse Spannung aus seinen gequälten Zügen und machte einer friedlichen Ruhe Platz. Seine Gedanken wanderten rückwärts. Bilder aus einer ein Menschenalter zurückliegenden Vergangenheit zogen plastisch an seinem Geiste vorüber … Die großen Bahnbauten damals in Mesopotamien im ersten Jahrzehnt nach dem Weltkriege. Ein kleines Landhaus am Ausläufer der Berge … Eine blonde Frau in weißem Kleide mit einem spielenden Knaben im Arm … Wie lange, wie unendlich lange war das her, daß er Gerhard Bursfeld, den ehemaligen deutschen Ingenieuroffizier, aus seinem kurdischen Zufluchtsort hervorgelockt und für die mesopotamischen Bahn- und Bewässerungsbauten gewonnen hatte. Damals, als Hände und Köpfe im Zweistromlande knapp waren.
Gerhard Bursfeld war dem Rufe zu solcher Arbeit gern gefolgt. Mit ihm kamen sein junger Knabe und sein blondes Weib Rokaja Bursfeld, die schöne Tochter eines