In Croix Daurada ging man damals frühzeitig zu Bett, um elf Uhr standen die Gäste von ihren Sitzen auf. Die beiden Nachbarn empfahlen sich der Familie Siadoux, Herr Chaubard aber war in der Verwirrung des Aufbruchs verschwunden, ohne eine gute Nacht zu wünschen. Er benahm sich sonst mit der ausgesuchtesten Höflichkeit, man schrieb daher sein merkwürdiges Wesen am heutigen Abend seinem Unwohlsein zu.
Die Witwe Mirailhe und die beiden Mädchen zogen sich in ihre Schlafzimmer zurück, die drei Brüder blieben allein im Speisesaal zurück.
»Johann,« sagte Thomas Siadoux, »ich habe ein Wort mit dir zu reden. Den ganzen Abend hindurch hast du unseren guten Herrn Chaubard auf eine wahrhaft beleidigende Weise angestarrt. Was wolltest du denn damit?«
»Warte bis morgen, vielleicht sage ich dir’s dann«, erwiderte Johann, zündete sein Licht an und ging weg. Thomas und Ludwig sahen, daß seine Hand zitterte, sie konnten sich seine Aufregung nicht erklären.
Als am folgenden Morgen die Post angekommen war und keinen Brief von Herrn Siadoux mitgebracht hatte, nahm die Familie an, daß er das Schreiben für überflüssig gehalten habe und im Laufe des Tages selbst zurückkehren werde.
Stunde um Stunde verfloß, Herr Siadoux kam nicht. Gegen Mittag sahen die Töchter, die wieder einmal nach dem Vater Ausschau hielten, einen Trupp Menschen, der sich dem Dorfe näherte. An der Spitze schritt der oberste Gerichtsbeamte von Toulouse in seiner Amtstracht, hinter ihm her kam eine Polizeiabteilung und mehrere Ratsdiener, die etwas zu tragen schienen. Der Zug hielt vor dem Hause des Herrn Siadoux. Seine Kinder eilten an die Tür, um zu erfahren, was das zu bedeuten habe. Sie erblickten auf einer Bahre, die von den Ratsdienern getragen wurde, den Leichnam ihres Vaters.
Die Polizei hatte den leblosen Körper am Morgen des 27. April an den Ufern des Flusses Gers gefunden. Dem Toten war nichts geraubt, seine Uhr und die gefüllte Börse fand man unangetastet in den Taschen, die Brust und der Rücken waren durch elf bis tief in die inneren Teile gedrungene Messer-oder Dolchstiche durchbohrt. Der Mörder hatte die Tat offenbar aus Rache, nicht aus Gewinnsucht verübt.
Der Schmerz und der Jammer im Hause Siadoux lassen sich nicht beschreiben. Es verging geraume Zeit, ehe die Kinder es zu fassen vermochten, daß ihr teurer Vater, den sie noch vor wenigen Tagen gesund und kräftig gesehen hatten, jetzt als Leiche vor ihnen lag; und auch das konnten sie sich nicht erklären, daß ein Mann, der niemals einen Feind gehabt hatte, heimtückisch ermordet worden sein sollte.
Niemand war imstande, auch nur eine Vermutung über die Person des Täters aufzustellen, dem Beamten blieb daher nichts weiter übrig, als seine Teilnahme zu versichern und das Versprechen zu geben, daß er alles aufbieten werde, um den Verbrecher ausfindig zu machen. Er zog mit seiner Begleitung wieder ab, die Witwe Mirailhe und ihre Nichten legten sich, als der Abend herankam, erschöpft von der Gemütsbewegung nieder, und abermals waren die drei Brüder allein in dem Familienzimmer. Thomas und Ludwig sprachen über das gräßliche Unglück, das sie betroffen hatte, ihr südlich heißes Blut kochte, und Rachedurst loderte in den tränenlosen Augen.
Endlich nahm der schweigsame Johann das Wort und sagte zu Thomas: »Du hast mich gestern getadelt, weil ich den Herrn Chaubard so forschend angesehen habe. Ich bin jetzt bereit, dir und Ludwig den Grund meines Benehmens anzugeben.«
Er hielt ein wenig inne und stimmte, als er wieder zu reden begann, seinen Ton zu einem Flüstern herab.
»Als Herr Chaubard gestern bei uns zu Tische war, stand bei mir die Überzeugung fest, daß unserem Vater etwas zugestoßen sein und daß der Priester davon etwas wissen müsse.«
Die beiden älteren Brüder blickten ihn mit schrecklichem Erstaunen an.
»Unser Vater wurde uns ermordet ins Haus zurückgebracht«, fuhr Johann leise fort. »Ich sage dir, Ludwig – und dir, Thomas – der Priester weiß, wer ihn ermordet hat.«
Ludwig und Thomas prallten zurück, als wenn ihr Bruder eine Lästerung ausgestoßen hätte.
»Hört mich an«, bat Johann. »Über diesem Mord schwebt ein vollständiges Dunkel. Der Magistratsbeamte hat zwar versprochen, sein möglichstes zu tun – aber ich sah es seinem Gesicht an, daß er keine Hoffnung hat, den Mörder zu entdecken. Wir selbst müssen der Sache auf die Spur kommen, sonst hat unseres Vaters Blut vergeblich zu uns um Rache geschrieen. Denkt daran – und merkt auf, was ich euch sage. Ihr hörtet doch gestern abend, wie ich sagte, daß ich den Herrn Chaubard auf dem Weg nach Toulouse, und zwar bei trefflicher Gesundheit und in der besten Stimmung, getroffen habe. Ihr hörtet aber auch, wie unser alter Freund und Nachbar beim Abendessen mir widersprach und behauptete, daß der Priester einige Stunden später mit dem Gesicht eines tiefentsetzten Menschen hier in die Kirche gegangen sei. Du hast es selbst mit angesehen, Thomas, wie er sich benahm, als du zu ihm gingst, um ihn in unser Haus abzuholen. Dir, Ludwig, fiel sein sonderbares Wesen auf, als er bei uns eintrat. Jedermann bemerkte die Veränderung, die mit ihm vorgegangen war.
Was ist der Grund davon gewesen? Ich habe die Ursache in den Mienen des Priesters gelesen, als unseres Vaters Name während des Abendessens erwähnt wurde. Nahm Herr Chaubard an diesem Gespräch auch nur den geringsten Anteil? Er war der einzige, der nicht ein Wort darüber sprach. War er es nicht, der jedesmal der Unterhaltung eine andere Wendung gab, wenn darauf die Rede kam? Viermal war das der Fall, und viermal lenkte er zitternd und stammelnd, indem er immer weißer und weißer wurde, das Gespräch auf einen anderen Gegenstand. Das ist so wahr, als sich der Himmel über uns wölbt! Seid ihr Männer? Habt ihr noch einen Funken Verstand in eurem Gehirn? Seht ihr denn nicht, was das zu bedeuten hat? Bei meinem Seelenheil schwöre ich euch, der Priester kennt die Hand, die unseren Vater erschlagen hat!«
Die Gesichter der beiden älteren Brüder verfinsterten sich, die Richtigkeit der Schlußfolgerungen Johannes leuchtete ihnen ein, und sie fragten hastig:
»Woher sollte der Pfarrer das wissen?«
»Das soll er uns selbst sagen«, versetzte Johann.
»Und wenn er zögert – wenn er sich weigert, zu sprechen?«
»So müssen wir ihn mit Gewalt dazu zwingen.«
Nach dieser Antwort rückten sie die Stühle näher zusammen und beratschlagten eine Zeitlang.
Als die Beratung zu Ende war, erhoben sich die Brüder und gingen in das Zimmer, in dem der Leichnam ihres Vaters lag. Alle drei küßten einer nach dem andern den Toten auf die Stirn, dann reichten sie sich die Hände, sahen sich mit Blicken des Einverständnisses an und trennten sich. Ludwig und Thomas setzten ihre Hüte auf und begaben sich unverzüglich in die Wohnung des Priesters, Johann eilte in die Werkstätte im Hinterhause, in der die Ölsiederei betrieben wurde.
Nur einer der Arbeiter war anwesend. Er hatte einen ungeheuren Kessel mit kochendem Leinöl zu überwachen.
»Ihr könnt heimgehen«, sagte Johann, indem er den Mann freundlich auf die Schulter klopfte. »Nach dem Unglück, das uns zugestoßen ist, kann ich doch nicht schlafen – ich will daher Euern Platz beim Kessel hier einnehmen. Geht ruhig nach Hause, mein Lieber – geht nach Hause.«
Der Mann dankte und entfernte sich. Johann folgte ihm, um sich zu überzeugen, daß er wirklich weggegangen sei. Dann kehrte er zurück und setzte sich neben dem Kessel nieder.
Unterdessen entledigten sich Ludwig und Thomas ihres Auftrages bei Herrn Chaubard. Der Priester nahm die beiden Brüder freundlich auf und fragte, was sie von ihm wollten. Sie teilten ihm mit, der Schrecken über des Vaters furchtbaren Tod habe ihrer Tante und ihrer ältesten Schwester so sehr mitgespielt, daß für ihren Verstand zu fürchten sei, wenn sie nicht noch heute nacht geistlichen Trost und Beistand erhielten. Der unglückliche Priester – stets pflichigetreu und aufopfernd, wo es sich um sein Amt handelte – stand sogleich