Bitterliches Weinen und Schluchzen.
»Warum wollen Sie und können nicht –«
»Oh, wegen Harro.«
»Was hat denn Harro dabei zu tun? Harro sagt manchmal Dinge, die leichtfertig klingen, aber er würde gewiß in nichts Ihren frommen Glauben antasten!«
»Nein, das nicht ... Aber er will nicht tun, was Herr Stiftsprediger denkt, daß alle frommen Männer tun. Er will ganz allein für sich leben, und von Jesus spricht er nie ein Wort. Und wenn er ihn sehr liebte, würde er doch von ihm reden. Er sagt immer: ›Ich verstehe das nicht,‹ und: ›Das mußt du den Herrn Stiftsprediger fragen.‹ – Und wenn er immer nicht will, so zerreißt doch das goldene Band, mit dem Gott sein Herz angebunden hat an seinen Thron.«
»Mein liebes Kind, ich sehe nicht ein, was das mit Ihrer Konfirmation zu tun hat. Das kann sich ja alles ändern, wenn Harro eine liebe fromme Frau hat.«
»Ja, sehen Sie denn nicht, wie ich immer weiter von ihm weggehe –, bis er ganz allein ist! Ich bin bei denen, die auf dem Himmelsweg gehen, und er ist allein draußen ... Und wenn die Himmelstüre zugeht und er ... – ganz allein ... in der Dunkelheit.« Rosmaries zarter Körper zittert vor Weinen und Schluchzen... »Sein goldenes Band zerrissen ... Ich kann es nicht: ich muß bei ihm bleiben.«
»Rosmarie, weinen Sie nicht mehr. Warten Sie bis morgen. Morgen kommt Herr Stiftsprediger zu Ihnen, und Sie reden mit ihm. Aber nicht wahr, ich kann mich darauf verlassen – von Harro reden Sie nichts!«
»Aber Frau von Hardenstein, das wäre ja, als wollte ich Harro verklagen.«
»Nun schlafen Sie, Rosmarie, und hoffen Sie auf morgen.«
Der Herr Stiftsprediger sitzt Rosmarie gegenüber an dem alten runden Tisch, auf dem ein Schlehdornzweig steht, der die Luft mit seinem bittersüßen Duft erfüllt. Auf den Steinplatten des Lindenstamms liegt goldener Sonnenschein. Drüben über den Waldhöhen jagen weiße Wolkenfetzen über einen blauen Himmel. Manchmal fällt auch ein Wolkenschatten herein, dann erlischt das Gold auf den Steinplatten und das hohe Gemach füllt plötzliche Dämmerung. Rosmarie schmiegt sich ängstlich und blaß in ihren Stuhl. Sie sieht fast jungfräulich aus in ihrem langen Kleide und den um den Kopf gelegten dicken Flechten. Das feine schneeweiße Hälschen steigt aus dem kleinen Ausschnitt ihres Kleides auf wie die Blüte der Herbstzeitlose aus dunklem Erdreich. Man sieht ihr immer noch an, daß sie gestern geweint hat, – scheu ist sie.
»Sie haben mir immer sehr viel Freude gemacht, Rosmarie,« beginnt der Herr Stiftsprediger. »Sie konnten nicht nur verstehen, was wir durchgenommen haben, sondern selbständig umdenken und mit Ihren eigenen Worten wiedergeben. Ich bin da manchmal überrascht gewesen. Namentlich auch darin, daß Sie, was bei Mädchen seltener vorkommt, keiner Schwierigkeit aus dem Wege gegangen sind, sondern diese immer noch ein Stück weiter verfolgt haben, als ich mit den andern Kindern schon tun konnte. In letzter Zeit habe ich bemerkt, daß Sie etwas bedrückt hat. Ich habe auch Ihrer gütigen Erzieherin, der Sie so viel verdanken, gesagt, daß ich gerne noch irgend welche Fragen Ihnen beantworten würde, wenn es in meiner Macht steht. Wir großen Leute haben auch nicht alle Fragen gelöst, Rosmarie.«
Er lächelte ein wenig und sah auf seine Hände herab und saß freundlich zuwartend da, ob Rosmarie nun Mut finden würde, ein Wort zu sagen. Aber sie schweigt. Da sagt er ohne aufzusehen: »Macht Ihnen Ihr Gelübde Schwierigkeiten?«
»O Herr Stiftsprediger, ich kann es nicht, ich kann es nicht ... ich bin still gewesen, wenn die andern Kinder es lernten.«
»Es sind alte Formen, Rosmarie. Es bekümmert mich oft selbst, daß unsere Kirche keine neuen Formen für diese so wichtige Sache findet oder gestattet. Es ist eine längst vergangene Zeit und keine der großen religiösen Zeiten unseres Volkes gewesen, die sie geschaffen hat. Ich habe Ihnen oft zu sagen versucht, wie jede Zeit ihre besondere Gotteserkenntnis hat, daß Formen immer viel länger leben als die mit ihnen verbundenen Anschauungen. Aber das ist es nicht, was Sie jetzt brauchen. Ich sehe, daß Sie dies alles sehr angreift, weinen Sie nicht, Rosmarie, wir wollen es so machen. Ich weiß, daß Sie Ihre Gedanken ganz gut schriftlich ausdrücken können. Schreiben Sie mir auf, was Sie selbst von Herzen glauben gelernt haben, in so wenig Worten wie möglich, Sie sollen ganz Freiheit haben. Schreiben Sie mir auf, was Sie auch vor Menschen bekennen würden, wenn Sie es müßten. Wollen Sie es gleich jetzt tun, so will ich warten, ich habe Zeit, und Sie können mich vielleicht doch noch um etwas fragen ... oder wollen Sie es mir schicken?«
»Ich will es lieber gleich jetzt schreiben, ich habe mich besonnen.«
Rosmarie stand auf und holte sich aus ihrer grünen Ledermappe einen Briefbogen, von den neuen, auf denen zum erstenmal eine Krone gedruckt war, und schrieb scheinbar ohne jedes Besinnen, als schreibe sie etwas ab. – Ach, sie hatte alles so oft bedacht in den letzten Tagen und Nächten und damit gerungen und sich abgequält. –
»Ich glaube an Gott, der die Welt geschaffen mit allen Erden, Sonnen, Sternen und Menschen. Ich möchte ihm danken, daß er die Erde so schön gemacht, grüne Wälder und das starke Himmelblau darauf, blanke Wasser und liebste Bäume und den Wind, der sie streichelt. Gott hat auch gemacht die feuerspeienden Berge, die wilden Stürme, den bittern Tod, die Einsamkeit, die Qual. – Damit wir ihm auch dafür danken können, hat er uns Jesus gesandt in die Welt und hat Jesus kennen lassen die Qual, die Einsamkeit, den bittern Tod. Ihm möchte ich dienen, so wie ich ihn liebe, und mein Herz ist nur traurig, weil ich ihn immer noch nicht genug liebe.«
Sie schaute zögernd auf, soll ich noch mehr schreiben? –
»Nein.«
Sie schiebt das Blatt ihrem Lehrer hin, der es nimmt und damit ans Fenster tritt. Der Wolkenschatten hat das Gemach wieder so verdüstert, oder er will nicht gesehen werden, wenn er es liest. Dann wendet er sich:
»Ich kenne ja Ihre Gedanken und sehe aufs neue, wie Sie darin leben. Sollte Ihnen wirklich die alte Form Schwierigkeit machen?«
»Es ist noch etwas dabei ... Ich will es aufschreiben, – oh, ich kann's nicht sagen.«
Sie nahm das Blatt wieder und schrieb darauf mit großen zitternden Buchstaben: »Ich will nicht in den Himmel kommen, ich will bei denen bleiben, die draußen sind in der Dunkelheit.«
Dann gab sie es wieder zurück und verbarg ihr Gesicht in ihre Hände und legte ihren jungen goldenen Kopf auf den Tisch mit seiner grünen Decke, und die zarten Schultern zuckten leise. Der Herr Stiftsprediger legte ihr sanft die Hand auf die Achsel: »Liebes Kind, trauen Sie sich selbst mehr Erbarmen zu als Gott? Wer sind die, die draußen stehen? – Meinen Sie, Gott verstünde nicht allerhand Gebräuche, Sprachen und Wesen der Menschen? Denken Sie denn, er schlösse seine Himmelstüre zu vor irgendeiner sehnenden Seele, oder verlangt irgendein Gelübde oder eine bestimmte Denkungsweise? Und kann ein Mensch vom andern seine tiefsten Geheimnisse wissen? Ist nicht, solange ein Mensch auf Erden geht, Hoffnung vorhanden, daß er sich eines Tages aufmacht und wie der verlorene Sohn zu seinem Vater zurückkehrt! Und selbst, wenn ein Mensch in unseren Augen verloren erscheint, was wissen wir, wie Gott ihn ansieht?«
Rosmarie hob ihr Antlitz auf, noch lagen Tränen auf ihren Wangen, aber ihre grauen Augen leuchteten in fast erschreckendem Glanze. Sie ergriff die Hand ihres Lehrers:
»Ich möchte konfirmiert werden! Ich lerne gewiß immer mehr lieben, und wenn Gott alles so gut versteht ... Oh, ich danke Ihnen, ich danke Ihnen!«
»Rosmarie, Gott wird Sie noch zum Segen machen für dieses Haus, wenn Sie treu bleiben.«
Und der Herr Stiftsprediger ging mit seinen langen, raschen Schritten zur Tür. Aber Rosmarie ging ihm nach.
»Oh, Sie wissen gar nicht, was für ein hartnäckiges Kind ich bin.«
»Und ich hoffe, daß Sie in einigen wichtigen Dingen auch hartnäckig bleiben werden.«
Und damit eilt er hinaus. Es eilte ihm aber durchaus nicht mehr, als er den langen Prinzessinnengang hinter sich hatte. Er blieb neben einer der Säulen stehen, die die steingehauenen Galerien tragen, die den Schloßhof umgehen. Er sah hinunter in