Weihnachts-Klassiker für alle Generationen: 280 Romane, Sagen, Märchen & Gedichte. Martin Luther. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martin Luther
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9788027223305
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er gehört hatte und in ihrem Zusammenhange nicht wiederfinden konnte. Dann fragte er: »Und wie, wie heißt es in dem Gedichte von dem Sünder? Wie sagte er, als er um Erbarmen flehte?«

      Diesesmal antwortete Carpio, ohne meinen Wink erst abzuwarten:

      »Betend faltet er die Hände,

       Hebt das Auge Himmel an:

       ›Vater, gieb ein selig Ende,

       Daß ich ruhig sterben kann!

      Blicke auf dein Kind hernieder,

       Das sich sehnt nach deinem Licht;

       Der Verlorne naht sich wieder;

       Geh mit ihm nicht ins Gericht!‹« – –

      »Blicke auf dein Kind hernieder,« wiederholte der Greis,- – »das sich sehnt nach deinem Licht; – – der Verlorne naht sich wieder; – – geh mit ihm nicht ins Gericht! – – – Nicht, nein, nein! – – nicht ins Gericht!« rief er laut aus, indem er die Augen weit aufriß und mit einem angstvollen Blicke rund um sich starrte. Dann schloß er sie wieder; der Ausdruck der Angst verschwand; ein leises, uns zu Herzen gehendes Lächeln breitete sich über sein Gesicht, und dann kam es flüsternd und immer leiser und langsamer werdend über seine Lippen: »Suchtest du noch im Verscheiden – – droben den Erlösungsstern – – wird er dich zur Wahrheit leiten – – und zur Herrlichkeit des Herrn – –! Wahrheit – – Herrlichkeit, oh Herrlichkeit – –! Ich bin müde; ich will schlafen, schlafen gehen – – schlafen gehen – – schlafen!«

      Er legte den Kopf hintenüber und ließ ihn dann zur Seite nach der Schulter fallen.

      »Mein Gott, er stirbt – er stirbt!« sagte der Wirt besorgt.

      »Nein, er stirbt nicht,« beruhigte ihn die Frau. »Er ist nur müde von dem weiten, schweren Wege und von der innern Erregung jetzt. Er hat oft solche doppelte Müdigkeit. Aber schlafen muß er jetzt. Bitte, sagen Sie mir, wohin ich ihn bringen soll!«

      »Bringen? Sie werden ihn tragen müssen?«

      »Halb geht er, und halb halte ich ihn.«

      »Ich werde Ihnen helfen. Wir haben oben eine Stube mit drei Betten. Ihr Sohn mag dort das Licht nehmen!«

      Sie griffen dem Alten unter die Arme und zogen ihn empor; er kam wieder zu sich und schritt, von ihnen unterstützt, doch ohne die Augen zu öffnen, zur Thür hinaus. Als ich nun mit Carpio allein war, sagte dieser:

      »Das war eine unerwartete Weihnachtsfeier, unerwartet und ergreifend, wie ich noch keine erlebt habe! Aber, Sappho, was sagst du dazu? Diese Leute sind keine gewöhnlichen Leute; ich glaube nicht, daß sie dem gewöhnlichen, dem Arbeiterstande angehören.«

      Der allerwegs zerstreute Freund pflegte dergleichen Beobachtungen sonst nicht zu machen; ich war ganz seiner Ansicht, erkundigte mich aber:

      »Warum denkst du das?«

      »Sie haben eine Weise, sich auszudrücken, welche auf einen bessern als den gewöhnlichen Arbeiterstand schließen läßt. Und sodann hat der Alte die Disposition, den Gedankengang deines Gedichtes so schnell begriffen und sich einzelne Strophen so leicht gemerkt, daß ich darauf schwören möchte, er habe es früher mehr mit geistiger als mit anderer Arbeit zu thun gehabt. Oder bist du anderer Meinung?«

      »Nein. Ich vermute sogar noch mehr.«

      »Was?«

      »Daß diese Familie unter einem sehr schweren Schicksale gelitten hat.«

      »Verdienter Weise?«

      »Ob verdient oder nicht verdient, das kann ich natürlich nicht wissen. Der angstvolle Blick, mit welchem der Greis so plötzlich aufgerissenen Auges um sich schaute, giebt auch keinen Anhalt. Diese Angst kann sich sowohl auf eigene wie auch auf erlittene Missethaten beziehen. Doch, das geht uns nichts an. Ich stimme dir aber darin bei, daß es wirklich eine ergreifende Weihnachtsfeier war, die ich nicht so leicht vergessen werde.«

      »Ich auch nicht. Du hast recht: Diese Leute gehen uns eigentlich nichts an; aber ich möchte doch gar zu gern wissen, wer oder was sie sind oder vielmehr früher gewesen sind.«

      Jetzt kam der Wirt, um die bescherten Gegenstände zu holen und hinaufzutragen. Als er dann wieder zurückkehrte und sich zu uns setzte, sagte er:

      »Der Abend hat so lustig angefangen und so ernst geendet; für uns drei aber darf er noch nicht zu Ende sein. Ich freue mich, solche Leute, wie Sie sind, einmal bei mir zu haben. Wir trinken noch eine Flasche Wein und bleiben so lange wie möglich auf. Und morgen lasse ich Sie erst recht noch nicht fort!«

      »Aber Ihre Frau – –?« fragte ich.

      »Oh, die hat Verstand! Nämlich, was gebildete Menschen, besonders Studenten betrifft, weil ich auch einer gewesen bin. Da schwelgt sie auch gern mit in meinen Erinnerungen und meinen Gefühlen. Das alte, gute Wort Multis ictibus dejicitur quercus ist ihr ebenso gut wie mir bekannt. Aber Bettler, Bettler und sonstiges Gesindel, das mag sie gar nicht leiden; da schimpft sie über jeden Kreuzer, den ich gebe; ich aber gebe gar zu gern, weil ich nämlich früher auch nichts gehabt habe, meine klassische Bildung natürlich abgerechnet.«

      »Wird sie, wenn sie von der Nachbarin zurückkehrt, hier hereinkommen?«

      »Nein.«

      »So kann der Baum, der zum Verräter würde, hier stehen bleiben?«

      »So lange wir aufbleiben, ja; dann trage ich ihn hinüber.«

      »Aber sie wird morgen sehen, daß die Lichter vollends abgebrannt sind!«

      »Alle Bomben! Ja, das ist wahr!« rief er aus. »Das giebt dann eine Hetz, die ich vermeiden möchte. Was ist da zu thun? Ich weiß mir keinen Rat! – – Halt, halt, ich hab’s, ich hab’s! Sind Sie klug genug, es zu erraten, Herr?«

      »Nein.«

      »Ich steck’ nachher neue Lichte in die Dillen; die brennen wir an und löschen sie wieder aus, wenn sie halb herunter sind. Da denkt sie, es sind die alten. Pfiffig muß man sein, pfiffig, sag ich Ihnen, Herr – – – Sa – – Saff – – – Wie heißen Sie eigentlich? Ich kann mir diesen Namen gar nicht merken. Karb – – Karb – – und Saff – – Saff – –!«

      Ich erklärte ihm, daß Carpio und Sappho nur unsere Studentennamen seien, und nannte ihm unsern richtigen. Mein Freund nahm daraus die Veranlassung, seine Gründlichkeit zu zeigen, und sagte:

      »Ich kann Ihnen sogar Schwarz auf Weiß beweisen, daß ich den genannten Namen mit vollster Berechtigung trage. Hier ist mein Reisepaß!«

      Er griff in die Westentasche, wo er, wie er sich genau erinnerte, die Legitimation in sichere Verwahrung gebracht hatte, zog aber die Finger leer zurück. Nun suchte er in der andern Westentasche, dann in allen Rock-und Hosentaschen, vergeblich; der Paß war wieder einmal verschwunden.

      »Wo er nur hingekommen sein mag?« fragte er bestürzt. »So ein Papier, welches noch dazu gestempelt ist, kann doch nicht so mir nichts, dir nichts verschwunden sein!«

      »Sollte etwa wieder deine Schwester – –?« erkundigte ich mich zart andeutungsvoll.

      »Die?« antwortete er, ohne meine arglistige Verworfenheit zu ahnen. »Diesesmal ist sie unschuldig, wirklich unschuldig, denn ich habe den Paß ja im Stiefel gehabt. Alle Wetter, sollte ich ihn etwa wieder hineingesteckt haben? Das wäre ja eine Zerstreutheit, und die kommt bei mir niemals vor. Der Schuster hat die Nagelspitze ja doch abgezwickt! Aber besser ist besser; ich werde nachsehen. Welcher Stiefel war es denn? Weißt du es, Sappho?«

      »Nein,« antwortete ich, den ewigen Gesetzen der Wahrheit leider ganz zuwider.

      »So muß ich in alle beide Stiefel gucken; dann ist der richtige auf alle Fälle dabei.«

      Er zog sie einen nach dem andern aus; der Paß war nicht da. Er zog der Sicherheit wegen dann auch die Strümpfe aus, überzeugte sich aber, daß auch sie ihm keinen Unterschlupf geboten hatten. Nun war guter Rat teuer. Wir suchten schließlich