»Gute Nacht, kleiner Lord Fauntleroy,« flüsterte Miß Vivians süße Stimme an seinem Ohr. »Schlaf wohl.«
Am andern Morgen wußte er nicht mehr, daß er mühsam die Augen halb geöffnet und schlaftrunken gemurmelt hatte: »Gute Nacht – ich bin so froh, daß ich dich gesehen habe – du – du bist – – so schön –,« nur ganz dunkel schwebte es ihm vor, daß er die Herren noch einmal hatte lachen hören, ohne zu wissen weshalb.
Kaum hatte der letzte Gast sich empfohlen, als Mr. Havisham seinen Platz am Kamin verließ und zu dem Sofa trat, wo der Knabe schlafend lag. Der kleine Lord Fauntleroy hatte sich höchst wohlig hingestreckt, die übereinandergeschlagenen Beinchen hingen über das Sofa herunter, der eine Arm war leicht um das Köpfchen gelegt, die Fülle der blonden Locken bedeckte das weiche, gelbseidene Kissen, und der rührende Friede eines gesunden, traumlosen, tiefen Kinderschlafes lag auf dem rosig angehauchten Gesicht. Es war des Ansehens wohl wert, das kleine Bild!
Mr. Havisham blickte lange darauf hin und rieb sich öfter als sonst das glatte Kinn mit der schmalen Hand, und der Ausdruck großer Bekümmernis trat immer deutlicher auf seinen Zügen hervor.
»Nun, Havisham,« fragte die rauhe Stimme des Grafen, »um was handelt es sich? Daß etwas vorgefallen sein muß, ist klar, heraus mit der Sprache.«
Mr. Havisham wandte sich langsam und zögernd von dem schlafenden Kinde ab.
»Es sind schlimme Neuigkeiten, Mylord, deren Ueberbringer ich zu meinem größten Leidwesen sein muß, höchst betrübende Dinge.«
Dem Grafen war schon den ganzen Abend unheimlich zu Mute gewesen, so oft er seinen Anwalt angesehen hatte, und dies beängstigende Gefühl machte ihn reizbar und verstimmt.
»Weshalb starren Sie nur immer den Jungen an?« rief er heftig. »Den ganzen Abend haben Sie ihn im Auge behalten, als ob – so hängen Sie doch nicht immer den Kopf über ihn hin wie ein unheilverkündendes böses Omen. Mit Lord Fauntleroy werden doch Ihre Neuigkeiten nichts zu schaffen haben.«
»Mylord, ich will ohne Umschweife zur Sache kommen. Gerade auf Lord Fauntleroy beziehen sich meine Mitteilungen, und wenn dieselben sich als richtig erweisen, so ist der Knabe, der hier schläft, überhaupt nicht Lord Fauntleroy, sondern einfach Cedrik Errol. Und der wirkliche Lord Fauntleroy ist ein Kind Ihres Sohnes Bevis und befindet sich in diesem Augenblick in einem Hotel garni in London.«
Der Graf hatte krampfhaft mit beiden Händen die Armlehnen seines Stuhles umklammert, so daß die Adern dunkelblau darauf hervortraten; auch die Stirnader trat heraus; das Gesicht war totenblaß.
»Was wollen Sie damit sagen?« keuchte er. »Sind Sie wahnsinnig geworden? Das ist eine infame Lüge!«
»Wenn es eine Lüge ist, so sieht sie der Wahrheit zum Verwechseln ähnlich. Heute früh erschien eine Frau auf meinem Bureau. Sie sagt aus, daß Ihr Sohn Bevis sie vor sechs Jahren geheiratet habe – in London; den Trauschein wies sie mir vor. Ein Jahr darauf trennten sie sich im Unfrieden und er unterhielt sie ausreichend, unter der Bedingung, daß sie ihm fernbleibe. Sie hat einen Knaben von fünf Jahren. Die Frau ist Amerikanerin, von niederem Stande, und wußte bis vor kurzem nicht, welche Ansprüche ihr Sohn erheben kann. Von einem Advokaten erfuhr sie dann, daß der Knabe rechtmäßiger Lord Fauntleroy und Erbe der Grafschaft Dorincourt sei, und macht nun natürlich ihre Ansprüche geltend.«
Das Lockenköpfchen auf dem gelbseidenen Kissen rührte sich; ein tieferes Aufatmen, wie ein schwerer Seufzer, drang zwischen den halbgeöffneten frischen Lippen hervor, verriet aber keine Unruhe. Seinen Schlummer störte es nicht, daß man beweisen wollte, daß er ein kleiner Usurpator sei, und durchaus kein Lord Fauntleroy, und nie und nimmer ein Graf und Erbe von Dorincourt werden könne. Er legte einfach sein Gesichtchen auf die andre Seite, wo der alte Mann, der ihn so erschüttert anstarrte, ihn noch besser sehen konnte.
Das Gesicht des Grafen war vollkommen verstört. Ein furchtbar bittres Lächeln verzerrte seine Züge.
»Ich würde trotz alledem und alledem kein Wort von der Geschichte glauben,« sprach er mühsam, »wenn es nicht ein so ganz und gar niederträchtiger Schurkenstreich wäre, der zum Wesen meines Sohnes so vollkommen stimmt. Er ist immer der Schandfleck unsers Namens gewesen; von jeher ein erbärmlicher, lasterhafter, ehrloser Wicht, mit den gemeinsten Instinkten – mein Sohn und Erbe Bevis, Lord Fauntleroy. Die Frau ist eine ungebildete Person?«
»Sie kann kaum ihren Namen schreiben, ist ohne jede Erziehung und ein unverblümt käufliches Geschöpf, In gewissem Sinne ist sie hübsch, aber –«
Der vornehme, alte Jurist hielt inne, offenbar von Widerwillen erfüllt.
Dunkelrot und dick angeschwollen traten die Adern auf des Grafen Stirn hervor, und eisige Schweißtropfen waren es, die er mit seinem Tuche wegwischen mußte. Immer bittrer wurde dies fürchterliche Lächeln.
»Und ich,« sagte er, »ich habe die – die andre Frau, die Mutter dieses Kindes, von mir gewiesen. Ich habe mich geweigert, sie anzuerkennen. Und die kann doch ihren Namen schreiben. Das ist vermutlich, was man Vergeltung nennt.«
Plötzlich sprang er auf und schritt im Zimmer auf und ab, wilde, leidenschaftliche Reden ausstoßend. Wie der Sturm um einen alten Eichbaum, so tobten Wut und Enttäuschung in des alten Mannes stolzem Herzen. Es war ein entsetzlicher Anblick, und doch entging Mr. Havisham nicht, daß er auch im wildesten Ausbruch seines Schmerzes der kleinen schlafenden Kindergestalt nicht vergaß und seine zornerstickte Stimme sorgsam dämpfte.
»Ich hätte es ja wissen können, daß sie mir auch übers Grab hinaus Schande anthun würden, die Söhne, die mir im Leben nichts andres bereitet haben. Wie habe ich sie gehaßt und sie mich! Bevis war der Schlimmere von den beiden. Und doch – ich will, ich will es noch nicht glauben – ich will dagegen ankämpfen, solange ich kann. Aber es sieht Bevis ähnlich – es ist meines Sohnes Art.«
Dann tobte er von neuem, und immer hin und her gehend, stellte er eine Menge Fragen in Bezug auf die Frau und ihre Beweismittel, und dunkle Glut überzog nun das vorher aschfarbene Gesicht.
Als er zuletzt alles erfahren hatte, was zu sagen war, und auch das Schlimmste wußte, überkam Mr. Havisham eine große Angst, so verändert, gebrochen und verstört sah der alte Mann aus. Seine Wutanfälle waren jederzeit unheilvoll für seine Gesundheit gewesen, dieser aber war gefährlicher, als alle früheren, weil noch ein andres als Zorn und Wut dabei mitsprach.
Endlich wurde sein Schritt langsamer und dann blieb er vor dem Sofa stehen.
»Wenn einer mir gesagt hätte, daß ich mein Herz an ein Kind hängen könnte,« sagte er, und die harte Stimme war schwach und unsicher, »ich würde ihn für einen Narren gehalten haben. Ich habe Kinder immer verabscheut – meine eignen in erster Linie. Den Jungen habe ich lieb und er hat mich lieb. Das kann ich von wenig Menschen sagen, aber von ihm. Er hat sich nie vor mir gefürchtet, er hat vom ersten Augenblick an unverbrüchlich an mich geglaubt. Das weiß ich, daß er meine Stellung besser ausgefüllt haben würde, als ich es je gethan habe; er hätte dem Namen Ehre gemacht.« Er beugte sich über das süße, friedlich schlummernde Gesicht. Die dichten Augenbrauen waren finster zusammengezogen, aber trotzdem hätte sein Gesicht in diesem Augenblicke niemand Furcht eingeflößt. Er strich leise das blonde Haar von der reinen, klaren Stirn, dann drückte er rasch auf die Klingel.
»Tragen Sie,« sagte er, auf das Sofa deutend, zu dem eintretenden Diener, »tragen Sie Lord Fauntleroy auf sein Zimmer.«
Seine Stimme habe sonderbar geklungen, dachte der Mann.
Zehntes Kapitel.
Amerika in Aengsten
Nachdem Mr. Hobbs von seinem jungen Freunde Abschied genommen hatte und nun von Tag zu Tage mehr zur Erkenntnis kam, daß der Atlantische Ozean zwischen ihm und dem kleinen liebenswürdigen Kameraden