Neunundvierzigstes Kapitel.
Gefangene besuchen
Auch die große Leinwand ist nach Brauneck hinübergewandert und steht im Ehrensaal. Die Beleuchtung ist ja lange nicht so gut zu regeln wie im Atelier, und alles Gerät sieht in dem Festsaal häßlich und verloren aus, aber Harro ist es doch lieber so, und er begrüßt es als einen Freund. Sonst scheint das Brauneck eitel Herzweh und Qual zu beherbergen. Die langen Galerien sehen nach Schritten aus, die einer in unruhiger Pein auf- und abgegangen, die Winde seufzen bei Nacht noch ganz anders als auf dem Thorstein, die Rose ist matt, und man weiß keine Stunde, wie man mit ihr daran ist, und ein endloser Regen vermischt die Sonnenherrlichkeit. Alfred wankt wieder herum und sieht so sehr nach einem Feldzug aus, daß man ihn der Rose, die ja ohnedies mit sich selbst beschäftigt ist, gar nicht vorzustellen wagt. Tante Ulrike ist fast zärtlich mit ihm und nimmt ihn so bitterernst, daß es Alfred fast selbst zu viel vorkommt. Ihre Schuld ist es nicht, wenn er nicht täglich runder wird. Und nun nimmt ihn Harro in die Kur, weil er doch eine Ablenkung für sich selber braucht, und Alfred lernt zwar nicht Farben reiben, aber sonst eine Menge für ihn nützlicher Dinge.
Zuweilen erlaubt es Tante Ulrikes Gewissen nicht, daß sie bei ihrem Kinde bleibt, und sie wechselt mit ihrer Schwester ab. Sie kommt sehr niedergeschlagen wieder. »Rose, da ist kein Ende abzusehen mit dem Elend da oben. Kein Mensch weiß einen Rat, ich weiß nicht, aber ich muß immer an eine Maus im Käfig denken. So fährt sie hin und her und so sitzt sie in den Winkeln. Man kann sie nur ruhig halten, wenn man von dir und Harro spricht. Namentlich von Harro will sie hören. Was er jetzt tut, was er dann tut, ob er bei dir ist, ob wo anders. Es belauert ihn immer eine von den armen Seelen oben und berichtet.«
Uli kennt doch nicht die ganze Seele ihres Kindes, sonst hätte sie das wohl nicht gesagt. Am Abend, als Harro gute Nacht sagen will, findet er sie so matt und deutlich verweint, daß er aufs neue erschrickt.
»Rose, wer hat der Rose etwas getan? Wer ist auf ihrem Herzen herumgetreten? War ich's und habe es wie gewöhnlich gar nicht bemerkt?«
»Nein, Lieber, du nicht. Du bist es nicht. Aber du sollst mir beistehen, Harro. Du sollst mir helfen, zu Mama hinaufgelangen, ich muß nach ihr sehen. Ich hoffte immer, es würde mir besser werden, daß ich mit Alfred oder Märt hinauf könnte und dich nicht zu stören brauchte, aber es wird ja nicht besser.«
»So, also dazu sind wir hergekommen, Rose? Daß du auch noch hineingezogen wirst in den allgemeinen Strudel! Ich wundere mich nicht, ich wundere mich gar nicht! Und was du nicht stören nennst, das ist ein Euphemismus für die Tatsache, daß es hinter meinem Rücken geschehen soll.«
»Lieber Harro, ich habe es ja noch nicht getan, und ich beichte ja.«
»Die Absicht. Rose, die schlimme Absicht... Nein, Rose.... das ist meine Antwort. Und deine Tränen rühren mich nicht. Du weinst sicher weniger, wenn du unten bleibst. Oder soll ich etwa den Herrn Hofrat um Erlaubnis fragen? ...«
Die Rose schwieg, und er ging auf etwas anderes über. Aber er wußte wohl, bei ihrer Hartnäckigkeit war die Sache doch nicht erledigt. Und mit großem Eifer sprach er mit ihr über sein Bild und daß er endlich über die Gestalten schlüssig werden müßte.
Er sagte: »Ich habe unter dem starken Eindruck deiner Erzählung damals, du weißt, von dem Schleier der Gisela, mich hinreißen lassen, dir in deiner Idee nachzugeben. Es war ein künstlerischer Fehler, und ich gedenke das Bild, das mir bis jetzt nicht unwürdig zu geraten scheint, nicht dadurch zu verderben. Wie soll ich denn die Gisela malen, die ich nicht kenne... Es wird eine Kopie von dir ...«
»Nun, wir sind ähnlich, Harro. Versuche eine Skizze zu machen!«
»Das ist unmöglich, und ich wollte, wir ließen dies unfruchtbare Thema fallen.«
»Ich habe sie neulich wieder gesehen, Harro, und nun kenne ich sie ganz. Wenn ich noch sticken könnte, mit der Nadel würde ich das Gesicht fertig bringen. Du hast selbst gesagt, mit der Nadel könnte ich fast alles, was ich wollte.«
»Liebe Rose, du kannst aber nicht sticken, sei doch nicht so hartnäckig...«
Sie lächelte. »Ja, lieber Harro, glaubst du wirklich, daß ich mich noch so viel ändern werde?«
Er lachte. »Gewiß nicht, und es wäre mir wohl auch gewiß nicht recht... Nun, jetzt kommt Hans Friedrich endlich wieder, und du wirst Musil hören und mich im Saal werken lassen.«
Die Rose warf sich die Nacht so unruhig herum, und Tante Ulrike klagte: »Harro, was hast du mit ihr gestern abend gehabt? Ich glaube, sie hat keine Stunde geschlafen.«
»Ulrike,« sagte er ernst, »wohin kommen wir, wenn wir ihr jeden und aber auch jeden Willen tun? Das gibt eine Tyrannis, das gibt eine fürchterliche Tyrannis,« klagte er. »Sie will etwas ganz Unvernünftiges und noch dazu Nutzloses. Was die zweite Sache anbetrifft, so muß ich mir allerdings sagen, daß ich bei ihren künstlerischen Ratschlägen, so unbequem sie mir oft waren, immer sehr gut gefahren bin. Sie hatte leider immer recht, aber diesmal verlangt sie etwas Ungeheuerliches. Ich sehe nicht ein, warum ich denn die große Arbeit, die mich befriedigt, opfern soll.«
»Harro,« wagte die Tante zu sagen, »mit deinen dicken Pinseln kann man doch immer überstreichen.«
»Küchenschränke, Tante Ulrike, gewiß, du verwechselst mich.«
»Oh, ich taste deine sieben Ehren nicht an, aber was können wir machen, kein Plätzchen zum Ruhen fand sie heute nacht. Und Harro, wir können uns das gar nicht mehr leisten, wir können es uns einfach nicht mehr leisten. Es verändert sich etwas, Harro.« Der alten Dame stürzten die hellen Tränen herunter; »ich meine, ich sehe es an ihrem lieben, schönen Gesicht.«
»Ich sehe nichts,« sagte Harro, »und das darfst du mir glauben, wenn ich es nicht sehe, so ist es sicher Einbildung.«
Er ging hinein. »Rose, du hast schlecht geschlafen, habe ich gehört, und dein alter Harro ist in der angenehmen Lage, daran schuld sein zu müssen.«
»Du nicht, Harro, du nicht, ich bin es, ich bin es ganz allein. Ich sehe es ein, du hast recht, es ist zu spät. Ich habe zu lange gewartet. Nun ist die Türe zu, der Bräutigam ist gekommen, und meine Lampe ist ohne Licht.«
Er erschrak heftig. »Rose, alles, nur das nicht. Du fängst jetzt mit religiösen Bedenken an. Ich gehe und hole deinen Herrn Stiftsprediger; wenn der Mann ein Herz im Leibe hat, muß er ein Einsehen haben. Ich glaube, ein Fanatiker soll er nicht sein. Sieh, du warst so hold und selig, und über was du mich alles hinüber getragen hast, das weiß ich vielleicht gar nicht. Und ich sehe ein, ich bin noch zu unverständig, ich kann dir noch nicht alles geben, was du vielleicht brauchst. Aber erklären sollst du mir, was das für eine Tür ist.«
Sie nahm das alte grüne Buch von ihrem Tisch. »Das Wort stand auf der vorletzten Seite: Ich bin gefangen gewesen, und ihr habt mich nicht besucht.«
Die Rose erhob ihre Augen... »Harro, du sagst, es ist zu spät, nun ist's zu allem zu spät. Und Jesus wird dieses Wort zu mir sagen... Sieh, da steht es, und dort, und ich wende mich, wohin ich kann, und sehe ins Licht und in die Dunkelheit, und dem Wort kann ich nicht entgehen. Ich hätte früher aus dem Goldhaus herüber kommen sollen, sowie Mama zurück war, und ich war zu feig und wollte meinem armen Herzen nicht weh tun. Und ich wäre vielleicht noch an der Klinge umgekehrt, wenn nicht die Gisela auf ihrem müden Schimmel mit ihrer armen kleinen Gerte mir den Weg gezeigt hatte. Da nach Brauneck hinüber zeigte sie.«
»Du hast sie gesehen, Rose! Dein Dämon, da ist er wieder. Nein, ich darf ja nichts mehr gegen sie sagen, da sie mir den ungeheuren Liebesdienst geleistet hat.«
»Harro, wenn du sie gesehen hättest dort an der Klinge mit ihrem blutgefleckten Gewand und mit den Augen, die