Hinter dem Matterhorn her stieg eine weiße Märchenwelt, ein ungeheurer Eiswall mit himmelstürmenden Zinnen, aus dem Gewühl der Hochwelt empor. Über Europa herrschend prangte da der Montblanc, und seine höchste Spitze, der Monarch, grüßte ins Oberland hinüber zur jungfräulichen Königin dieser erdentrückten Pracht. Gegenüber, dort im Osten, trotzten die Tiroler Berge den mächtigeren Schweizer Genossen. Die Ortlergruppe wölbte sich aus dem Getümmel der niederen Spitzen, der zackige Groß-Glockner stand in leuchtendem Glanz, und zwischen alledem schimmerten, wie der Widerschein des Himmels, tiefblau durch die Nebelfetzen die Fluten des Lago Maggiore.
Kein Laut ... keine Bewegung in der zahllosen Schar der Gipfel, die ihr beschneites Haupt zum Himmel aufheben.
Starr und fürchterlich wie die Ewigkeit stehen sie da, durch trüben Wolkendunst von der Welt da unten geschieden. Was kümmerte sie Erdenlust und Erdenleid? So haben sie gestanden, lange vor dem Ersten jenes Zwerggeschlechts, das ihnen jetzt seinen Fuß auf den Nacken setzt, so werden sie stehen, wenn der Letzte der Pygmäen in der Gletscherwüste verkommt, die einst von ihren Hängen herab langsam über den erkalteten Erdball kriechen wird. Auf Länder und Meere sehen sie hinab. Dort drüben liegt das Deutsche Reich, da ganz hinten Österreich. Hier ringsum die Schweiz und da nahe dabei Italien ... da Frankreich ... Aber die Berge blicken in starrer Verachtung auf das blühende Leben unten. Und aus ihrem Sturm spricht die Stimme der Ewigkeit: Seit Jahrtausenden schauen wir dem bunten Spiele zu. Die Völker kommen und gehen. Es ebben und fluten die Zeiten. Es drängen sich die Dinge. Nichts ist beständig, als der Tod. Nichts bleibend, als der Wechsel. Das wissen wir, die ewig Dauernden, die Leblosen ... Winzig und vergänglich ist alles, was ihr Menschen da unten treibt ... töricht euer Tun und Hoffen, ein Nebeldunst das alles, was euch da unten groß und gewaltig erscheint, und ihr selbst ein armseliges, im Tage vergehendes, im Tage verwehendes Geschlecht.
Unwillkürlich suchten die beiden einsamen Menschen da oben einander mit den Händen. Die verschränkten sie fest und blickten hinaus in die fürchterliche Pracht.
»Am liebsten möcht' ich niederknien und beten!« sagte Elisabeth endlich leise.
Der Freund nickte: »Da wölbt sich über Kirchen und Bergen der wahre Himmelsdom. Und wenn wir 'runtersteigen, wissen wir's: wir waren drin ... Und unsre Augen haben Gott geschaut!«
XI
Auf dem Heimweg war das Wetter umgeschlagen. Der Nebel stieg aus den Tälern.
Erst schwebte ein einsamer rauchiger Schwaden langsam und sich wie zögernd bald nach rechts, bald nach links wendend über die glitzernde Firnfläche dahin. Kleine Nebelfetzen blieben hinter ihm zurück und krochen unschlüssig hin und her, während die Hauptwolke aufwärtsstrebend sich in den Zacken der nächsten Felswand verfing und deren Rippen mit rieselndem, schlüpfrigem Tau überzog.
Von andern Seiten erklommen andre graue Dunststreifen schwerfällig die Höhe des ewigen Schnees. Sie näherten sich, sie steuerten durch die merklich trüber und feuchter werdende Luft aufeinander zu, und wo sie sich trafen, da erloschen die Strahlen der Sonne wie der Glanz des Firns, da verschwand das Blau des Himmels und das Weiß des Schnees, und alles, alles floß in ein eintöniges, uferloses, unendliches Grau zusammen, von dem man nicht wußte, ob es aus Luft, ob es aus Nebels ob es aus schwebendem Wasserdunst oder einem ganz feinen, durchdringend prickelnden Regen, ob es aus dem allem zusammen bestand.
Wundersam war von oben der Blick auf diese Wolkenwelt, die langsam, alles in ihren grauen Fluten verschlingend und ertränkend, aus den Tälern sich zum Himmel hob. So mußte die Sintflut ausgesehen haben! Wohin das Auge schweifte, ein wüstes, wesenloses Chaos, in dem Himmel und Erde in eins zusammenflossen und alle Gebilde der Welt spurlos verschwanden. Nur die höchsten Gipfel wehrten sie noch. Wie schroffe, jäh aus dem Ozean aufsteigende Inseln erhoben sich ihre schneeüberschütteten Zinnen aus dem Wolkenmeer, das ihre Hänge umspielte, aus diesem wellenlosen, geräuschlos steigenden Meer, dieser Brandung, die, zu Eis erstarrt, die Klippen umkränzte. Nichts von dem Donner der Wogen, von Möwenschrei und Sturmgeheul, das die wüste See belebt. Nichts regte sich, kein Laut erklang hier in dieser Todesdämmerung, die wie die Vernichtung selbst schweigend höher und immer höher zum Himmel emporwallte.
In ihr verschwand alles, was man bisher gekannt und geliebt ... umsonst forschten die beiden einsamen Menschen von ihrem Schneehügel droben nach irgendeinem vertrauten Punkt. – Alles, alles versank in uferlose Weiten. Die ganze Welt, die sie sonst umgeben, ihr ganzes Leben, ihr eigenes Selbst ... was sie bisher getan und gedacht und empfunden ... das nahm auf Nimmerwiedersehen der schweigende Nebel auf, das lag begraben hinter ihnen, und ihrer harrte ein neues, geheimnisvolles Dasein, eine von grauen Wolkenschleiern verhüllte, von Tod und Gefahren starrende Welt, in die sie schwer atmend tiefer und tiefer hinabstiegen.
Zuweilen sahen sie auf diesem Weg in das unbekannte Land hinab einander an, mit einer Art von Staunen. »Also das bist du – das Du, auf das ich ein langes Leben gewartet hab', ohne es zu kennen, ja ohne es zu begreifen – das Du, das mir mein eigenes Ich nimmt und mich doch reicher macht, als ich bin, das zerstörend und verwüstend in mein Leben einbricht, das mich mit gewaltigem Stoß aus meinen altgewohnten Bahnen schleudert und mit sich reißt, Gott weiß wohin – vielleicht in Sünde und Schuld, in Not und Tod – dies furchtbare, übergewaltige, gespenstige Du, das ich nie hätte schauen sollen, und das mir doch die Stunde zur gesegneten, zur einzig lebenswerten meines Lebens macht, die uns beide zusammenführte!«
Zusammen für immer ... sie sprachen es nicht aus ... sie dachten es nicht aus ... es stand als etwas geheimnisvoll Schauerndes, als ein wonniges, unbestimmtes Grauen in ihrer Brust.
Tiefer und tiefer hinab in das unbekannte Land! Schon umhüllten rings die Nebelschatten die schwer stapfenden Wanderer; ein feiner Wasserstaub, man weiß nicht, ist es Regen, ist es Nebel, senkt sich auf sie hernieder, mit einem feuchten Dunst alle Poren der Kleider durchdringend, und unter ihren Füßen glitscht und rutscht der aufgeweichte teigige Schnee. Dann über das weite Gewirr der Guffeln, der naßglänzenden, schlüpfrigen Felsblöcke, durch den zerfließenden Schlamm der Moräne, über den Gletscher hin, von dem man im Nebel nichts sieht als die Eisfläche gerade vor sich und etwas abseits eine versprengte Ziege, die, blasiert meckernd, als ob sich das von selbst verstände, zwischen den eisigen Schrunden und Zacken umhersteigt, und zum Chalet, wo man die Nacht zugebracht.
Hier wollte der Führer rasten. Elisabeth sprach zum erstenmal seit langer Zeit wieder ein Wort. »Ich möchte nicht lange hierbleiben«, sagte sie halblaut, »ich möchte so rasch wie möglich hinunter in das Tal.«
Ihr Freund nickte. »Gehen wir weiter!« rief er kurz zum Führer und zog den Rucksack, den er schon hatte ablegen wollen, wieder über die Schulter empor.
Weiter in das Tal, wo die Entscheidung harrte. Wie sie ausschauen, wie alles sich gestalten sollte, das wußte keiner von den beiden.
Aber immer rascher wurden ihre Schritte, trotz der Ermattung des langen Marsches, trotz des schlechten, geröllüberschütteten Maultierpfades, der sich in endlosem Zickzack hinüberzog. Längst hatten sie die Grenzen des Baumwuchses erreicht und wanderten zwischen Lärchen und sturmgeschüttelten Kiefern hin, in deren struppigem Geäst die Nebel brauten, schon kamen sie über triefende Matten, auf denen da und dort undeutlich die Sennhütten sich durch das fließende Grau hin abzeichneten und dumpfes Rindergebrüll erscholl, sie gingen an der Kapelle vorbei, über die Holzbrücke, unter der die grauen Eiswogen der Visp schäumten und tosten – und da lagen die ersten Häuser von Zermatt vor ihnen.
In dem Nebeldämmern des Spätnachmittags machte das verräucherte Bergdorf einen ganz fremden Eindruck. Es war, als sei der ganze Kulturfirnis, der es sonst während der Sommermonde überzog, mit einemmal vom Regen weggewaschen worden. Verschwunden waren die bunten offenen Jahrmarktsbuden zu beiden Seiten der Straße, verschwunden die schellenklingelnden Maultierzüge und wie von der Erde verschluckt die Fremden, deren buntscheckiges Treiben sonst in allen Sprachen der Welt die schmutzige Dorfgasse