In letzter Stunde fällt das Haus Bragança, als Napoleon 1807 das Ultimatum stellt, ob Portugal für ihn oder gegen ihn sein wolle, die Entscheidung: lieber Lissabon aufgeben, lieber ganz Portugal verlieren als Brasilien. Während Junot in Eilmärschen schon vor den Toren Lissabons angelangt ist, schifft sich die königliche Familie mit fünfzehntausend Personen, dem ganzen Adel, dem Magistrat, den Kirchenleuten, den Generälen und – last but not least – zweihundert Millionen Cruzados hastig ein, überquert unter dem Schutz der englischen Flotte den Ozean. Ein Weltumsturz mußte kommen, damit zum erstenmal in drei Jahrhunderten irgendein Angehöriger des Hauses Bragança und nun sogar sein König in persona den Boden Brasiliens betritt.
Der Gouverneur und die Zeremonienmeister erschrecken heftig. Rio de Janeiro hat keine Paläste, hat nicht genug Räume und Betten, um so hohe Gäste und einen so zahlreichen Hofstaat zu empfangen. Aber das Volk jubelt dem Monarchen begeistert entgegen und begrüßt mit Jubelrufen ihn als den »Imperador do Brasil«, denn es fühlt instinktiv, daß ein Monarch, der einmal als Flüchtling bei ihm Schutz gesucht, Brasilien in Hinkunft nicht mehr länger als untergeordnete Kolonie behandeln könne. In der Tat fallen bald nach der Ankunft des Königs die einengenden Schranken. Vor allem werden die Häfen dem Welthandel geöffnet, die industrielle Produktion unbeschränkt freigegeben, eine eigene Bank geschaffen, die Banco do Brasil, Ministerien eingesetzt, eine königliche Presse eröffnet, zum erstenmal darf in dem bisher geknebelten Land sogar eine Zeitung erscheinen. Eine Reihe Institute erstehen, die Rio de Janeiro zu einer wirklichen Hauptstadt machen, Akademien, Museen, ein botanischer Garten. Aber erst 1815 erfolgt endlich die volle staatsrechtliche Gleichberechtigung der reinos unidos; Portugal und Brasilien, einst Herrin und Magd, sind nun Schwestern. Was vor einem Jahrzehnt nicht zu erträumen war und von staatsmännischer Weisheit ansonsten in Jahrhunderten nicht zu erhoffen, das hat die weltumformende Persönlichkeit Napoleons in knappster Frist erzwungen. Durch diesen Glücksfall – immer waren, man kann es nicht genug wiederholen, die Katastrophen Portugals Glücksfälle für Brasilien – bleibt der Unabhängigkeitskrieg, der Nordamerika durch Jahre verwüstet und die anderen südamerikanischen Staaten schwere Blutopfer gekostet, diesem bevorzugten Lande zunächst erspart; Brasilien kann die europäische Unruhezeit geruhig nutzen, um seine Grenzen langsam zu konsolidieren. Längst – 1750 – sind die alten Einschränkungen des Vertrages von Tordesillas für ungültig erklärt worden. Weit nach Westen, den ganzen Lauf des Amazonas entlang, erstreckt sich das neue Königsreich in die Tiefe; im Süden ist Rio Grande do Sul dazugewonnen, im Norden die lang umkämpfte Grenze bis nach Guyana hinaufgerückt, und die gute Gelegenheit, daß Europa auf Kongressen beschäftigt ist, verlockt Dom João VI., sich mit einem Handstreich Montevideos zu bemächtigen und Uruguay – allerdings nur vorübergehend – an Brasilien als cisalpinische Provinz anzuschließen. Die endgültige Form Brasiliens ist mit dem neunzehnten Jahrhundert soviel wie erreicht.
Diese Jahre der Gegenwart des königlichen Hofes bringen außer dem politischen dem Lande auch ungemeinen moralischen Gewinn. Seit die Jesuiten unter Pombal aus dem Lande vertrieben wurden, geschieht es zum erstenmal, daß Portugiesen von kulturellem Rang, Gelehrte, Wissenschaftler sich in der Hauptstadt ansässig machen. In großzügigster Weise beruft der König außerdem Forscher und Maler aus Frankreich und Österreich, um Institute zu begründen oder zu erweitern. Erst von diesem Zeitpunkt an besitzen wir wirkliche Bilder und Darstellungen von Rio, wissenschaftliche Studien, lesbare Schilderungen. Das königliche Brasilien ist nun nicht mehr die einstige terra do exilio, seit es die terra do refúgio seines Königs geworden, und in wenigen Jahren wird es ein Gegenpol europäischer Zivilisation und die Stätte eines glanzvollen und hochgeachteten Hofes. Und nichts zeigt deutlicher die Weltstellung dieses neuen Landes, als daß der Kaiser von Österreich, nach Napoleons Fall der mächtigste Mann Europas, den Thronfolger dieses Reiches, Dom Pedro, nicht für zu gering hält, um ihm eine Schwester Maria Louisens, seine Tochter Leopoldine zu vermählen, die mit größten Festlichkeiten in Rio empfangen wird. Könnte König João seiner eigenen Neigung folgen, so bliebe er zeitlebens in dem neuen Land, dessen Schönheit und zukünftiger Wert ihm wie all den Seinen bald klargeworden ist. Aber das heimische Portugal verlangt, nun da Napoleon von seiner wüsten Insel St. Helena Europa nicht mehr beunruhigen kann, seinen angestammten König eifersüchtig zurück. João gerät in Gefahr, falls er dem immer gebieterischer werdenden Rufe nicht folgt, den Thron seiner Vorfahren zu verlieren. Lange zögert er den Abschied hinaus, aber schließlich geht es nicht länger: 1820 kehrt João VI. nach Lissabon zurück, nachdem er zuvor den Thronerben Dom Pedro zu seinem Stellvertreter in Brasilien ernannt.
König João VI. hat zwölf Jahre in Brasilien residiert, Zeit genug, um zu erkennen, wie stark, wie eigenwillig, wie national das Land mit dem neuen Jahrhundert geworden ist; im tiefsten Herzen vermag er sich der schlimmen Vorahnung nicht ganz zu erwehren, daß eine Personalunion zweier Länder über dreitausend Meilen Ozean auf die Dauer nicht haltbar sein wird. Aus dieser Erkenntnis gibt er seinem Sohn Dom Pedro, den er als defensor perpétuo do Brasil eingesetzt hat, den Rat, im Notfall lieber selbst die Krone Brasiliens sich auf das Haupt zu setzen, ehe irgendein fremder Abenteurer sie an sich reißt. Tatsächlich zeitigt die Abreise des Königs eine nationale Bewegung, welche die independência fordert, und die von dem Thronfolger eher gefördert als gehemmt wird. Nach scheinbarem Widerstand erklärt der junge Ehrgeizige am 7. September 1822, geführt von dem hervorragenden patriotischen Minister José Bonifêcio de Andrada e Silva, dem ersten wirklich brasilianischen Staatsmann, der mit großer geistiger Überlegenheit den Ehrgeiz des Thronfolgers für seine patriotischen Ziele auszunützen weiß, die Unabhängigkeit Brasiliens; am 12. Oktober 1822 wird der bisherige defensor perpétuo als Pedro I. zum Kaiser von Brasilien proklamiert, nachdem er zuvor geschworen, nicht als autokratischer Herrscher, sondern als konstitutioneller Fürst das Land zu regieren. Nach kurzen Kämpfen teils mit treugebliebenen portugiesischen Truppen, teils mit revolutionären Bewegungen, wird die äußere Ruhe im Lande hergestellt; die innere freilich ist schwerer zu erringen. Das brasilianische Unabhängigkeitsgefühl, von den unerwartet raschen Erfolgen berauscht, will noch sichtbarere Triumphe. Auch diesen seinen ersten Kaiser empfindet es noch nicht als den eigenen, den eigentlichen, den wirklich brasilianischen; das Volk kann Pedro I. nicht verzeihen, daß er geborener Portugiese ist, und der Verdacht will nicht verstummen, er würde nach dem Tode seines Vaters versuchen, die beiden Kronen wieder zu vereinigen. Auch versteht Pedro I., mehr Romantiker als Realist, bravourös, aber allzuviel mit erotischen Privatangelegenheiten beschäftigt und den Hof der Willkür seiner Maitresse, der Marquise von Santos, aussetzend, sich nicht bei seinem Volke beliebt zu machen.
Den entscheidenden Stoß gibt der unglückliche Krieg gegen Argentinien, in dem Brasilien seine »cisalpinische Republik« verliert. Im historischen Sinne bedeutet der Ausgang dieses Krieges zwar eher einen politischen Gewinn; durch die Schaffung eines unabhängigen Uruguay ist ein für allemal jeder Konflikt zwischen den beiden mächtigen Schwesternationen Brasilien und Argentinien ausgeschaltet und durch dauernde Freundschaft ersetzt. Aber 1828 sieht das Land nur den Verzicht auf die La-Plata-Mündung, der Brasilien sehnsüchtig seit Jahren zustrebt, und der Kaiser muß diesen Unmut fühlen. Es hilft nichts, daß er 1830, nach dem Tode João VI., die ihm rechtlich zufallende Krone Portugals ausschlägt und damit bekundet, daß er sich eindeutig für Brasilien entschieden habe; er bleibt hier der Fremde, der Ausländer, und immer mehr organisieren sich die nationalen Elemente gegen ihn. Die französische Julirevolution gibt seiner Popularität den letzten Rest, denn alles Französische wirkt stimulierend auf die brasilianischen Parlamentarier, die in ihren Reden, Verordnungen und Debatten gewohnt sind, das Pariser Vorbild nachzuahmen, und diese Kopierung des Französischen geht so weit, daß groteskerweise zwei führende brasilianische Politiker sogar Lafayette und Benjamin Constant heißen. Nur rechtzeitige Resignation des unbeliebten Kaisers kann den Thron noch gegen den republikanischen Ansturm retten; so dankt Pedro I. 1831 zugunsten seines Sohnes ab in der richtigen Erkenntnis: Meu filho tem sôbre mim a vantagem de ser brasileiro. Auch bei dieser Abdankung wird wieder die brasilianische Tradition glücklich gewahrt, staatspolitische Umstürze womöglich ganz ohne Blutvergießen und in konzilianter Art zu vollziehen. Still, nicht verfolgt von Haß und Groll, verläßt der erste Kaiser Brasiliens das Land.
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