Die ersten Tage nach der Ankunft widmen die Jesuiten der Rekognoszierung der Situation. Ehe sie lehren, wollen sie lernen, und sofort macht einer der Brüder sich ans Werk, um möglichst schnell die Sprache der Eingeborenen zu meistern. Daß die Eingeborenen sich noch auf dem tiefsten Tiefstand der nomadischen Epoche befinden, zeigt schon der erste Blick. Sie gehen völlig nackt, kennen keine Arbeit, haben weder Schmuck noch das primitivste Gerät. Was sie zum Leben brauchen, holen sie von den Bäumen oder aus den Flüssen, sobald eine Gegend abgegrast ist, ziehen sie weiter. An sich eine gutmütige und sanfte Rasse, führen sie Krieg untereinander nur, um Gefangene zu machen, die sie dann unter großen Festlichkeiten verzehren. Aber auch dieser kannibalische Brauch stammt nicht aus einer besonderen Grausamkeit ihrer Natur; im Gegenteil, diese Barbaren geben dem Gefangenen noch ihre Tochter zur Frau und hegen und pflegen ihn, ehe sie ihn schlachten. Wenn die Priester versuchen, sie des Kannibalismus zu entwöhnen, so stoßen sie mehr auf verwundertes Erstaunen als auf wirklichen Widerstand, denn diese Wilden leben noch völlig jenseits jeder kulturellen oder moralischen Erkenntnis, und Gefangene zu verzehren bedeutet für sie nichts als ein ebenso festlich unschuldiges Vergnügen wie Trinken, Tanzen oder mit Frauen Schlafen.
Dieser ungeheure Tiefstand der Lebenshaltung scheint zunächst eine unüberwindliche Hemmung für das Werk der Jesuiten, in Wirklichkeit aber erleichtert er ihnen ihre Aufgabe. Denn da diese nackten Wesen überhaupt keine religiösen oder sittlichen Vorstellungen besitzen, ist es viel leichter, ihnen welche beizubringen als Völkern, bei denen ein eigener Kult schon vorwaltet und wo Zauberer, Priester und Schamanen dem Missionar mit Erbitterung entgegentreten. Die brasilianische Urbevölkerung dagegen ist ein »unbeschriebenes Blatt«, ein papel em branco, wie Nóbrega sagt, das weich und gefügig die neue Vorschrift aufnimmt und jeder Belehrung vollen Raum läßt. Überall empfangen die Eingeborenen die brancos, die Priester ohne jedes Mißtrauen: Onde quer que vamos, somos recebidos com grande boa vontade. Sie lassen sich ohne Zögern taufen und folgen – warum auch nicht? – den Priestern, den »guten Weißen«, die sie vor den andern, den »wilden Weißen« schützen, willig und dankbar in die Kirche. Selbstverständlich wissen die Jesuiten als gelernte und immer wache Realisten, daß diese träge, gedankenlose Zustimmung, das Niederknien und Kreuzeschlagen von Kannibalen noch lange kein wirkliches Christentum ist – selbst bei dem berühmten Verteidiger ihrer Mission in São Paulo bei Tibiriçê erleben sie gelegentliche Rückfälle in den Kannibalismus – und sie vergeuden nicht ihre Zeit mit prahlerischen Statistiken über die schon gewonnenen Seelen. Sie wissen, daß ihre eigentliche Aufgabe in der Zukunft liegt. Zunächst einmal nur die nomadische Masse an stabilen Stätten anwurzeln lassen, damit man ihre Kinder erfassen und belehren kann. Das gegenwärtige kannibalische Geschlecht ist nicht mehr ernstlich zu kultivieren. Aber ihre Kinder und Kindeskinder, also die kommenden Generationen, im Sinne der Kultur auszubilden, kann leicht gelingen. Darum ist es den Jesuiten das Wichtigste, Schulen einzurichten, in denen sie, weit vorausblickend, mit jener Idee systematischer Vermischung beginnen, die Brasilien zur Einheit geformt und allein als Einheit erhalten hat. Bewußt vereinen sie Kinder aus den Strohhütten der Wilden mit den schon zahlreichen Mischlingen und fordern dringend weiße Kinder aus Lissabon, mögen es auch nur die verwahrlosten, die verlassenen Kinder sein, die in den Straßen Lissabons aufgelesen werden. Jedes neue Element, das die Mischung befördert, ist ihnen willkommen, sogar die moços perdidos, ladrões e maus que aqui chamam de patifes. Denn es gilt für sie, da die Eingeborenen gleichfarbigen oder mischfarbigen Brüdern bei dem religiösen Unterricht mehr Vertrauen schenken als den Fremden, den Weißen, sich die Lehrer des Volkes aus dem eigenen Blut des Volkes zu schaffen. Im Gegensatz zu den andern denken sie ausschließlich in und für kommende Generationen; strenge und klare Realisten und Rechner, haben sie als einzige eine wirkliche Vision des kommenden, des werdenden Brasiliens, und noch ehe irgendein Geograph die räumliche Größe dieses Landes ahnt, stellen sie ihre Arbeit auf den richtigen Maßstab ein. Es ist ein Feldzugsplan für die Zukunft, den sie entwerfen, und sein letztes Ziel bleibt unverrückbar durch die Jahrhunderte: Formung dieses neuen Landes im Geist einer einzigen Religion, Sprache und Idee. Daß dieses Ziel erreicht wurde, bleibt Brasiliens dauernde Dankesschuld an diese ersten Schöpfer ihrer Staatsidee.
Der eigentliche Widerstand, auf den die Jesuiten mit ihrem großzügigen Kolonisationsplan stoßen, kommt nicht, wie man zuerst erwarten konnte, von den Eingeborenen, den Wilden, den Kannibalen; er kommt von den Europäern, den Christen, den Kolonisten. Bisher war für diese entlaufenen Soldaten, desertierten Matrosen, für die Desgregados Brasilien ein exotisches Paradies gewesen, ein Land ohne Gesetze und Einschränkungen und Verpflichtungen, in dem jeder tun und lassen konnte, was ihm beliebte. Ohne von Justiz oder Autorität ernstlich behelligt zu werden, konnten sie den wüstesten Trieben freien Lauf gewähren; was in ihrem Heimatland mit Kette und Brandmarkung geahndet wurde, galt hier als erlaubtes Vergnügen gemäß der Conquistadorendoktrin: Ultra equinoxialem non peccatur. Sie beschlagnahmten Land, wo und wieviel sie wollten, sie holten sich Eingeborene, wo sie sie gerade fanden und ließen sie unter der Peitsche roboten. Sie nahmen jede Frau, die ihnen über den Weg lief, und die ungeheure Zahl der Mischkinder illustrierte bald die Verbreitung dieser wilden Vielweiberei. Niemand war zur Stelle, ihnen Autorität aufzuzwingen, und so lebte jeder dieser Gesellen, die meist noch die Brandmale des Zuchthauses auf den Schultern trugen, wie ein Pascha, ohne sich um Recht und Religion zu kümmern und vor allem ohne jemals selbst die Hand zu wirklicher Arbeit zu rühren. Statt das Land zu zivilisieren, waren diese ersten Kolonisten selber verwildert.
Dieser rüden, an Müßiggang und Selbstherrlichkeit gewöhnten Rotte wieder Zucht beizubringen, bedeutete eine harte Aufgabe. Was die frommen Brüder am meisten entsetzt, ist die zügellose Vielweiberei, das braune Haremswesen. Aber anderseits, wie diese Männer anklagen, daß sie hier in wildem Konkubinat leben, da doch gar keine Möglichkeit für sie besteht, legal zu heiraten und eine Familie zu gründen? Denn wie eine Familie gründen, die allein Grundlage bürgerlicher Gesittung werden kann, wenn weiße Frauen völlig fehlen? So drängt Nóbrega den König, er möge Frauen aus Portugal herüberschicken: Mande Vossa Alteza mulheres órfãs, porque tôdas casarão. Und da nicht zu erwarten ist, daß die Fidalgos Portugals ihre Töchter in das weite und entlegene Land senden werden, damit sie sich unter diesen wüsten Gesellen einen Gemahl suchen, geht Nóbrega in seiner Großzügigkeit sogar so weit, den König zu bitten, er möge auch die gefallenen Mädchen, die Dirnen aus den Straßen Lissabons herüberspedieren. Hier fände jede einen Mann. Nach einiger Zeit gelingt es den vereinten geistlichen und amtlichen Autoritäten tatsächlich, in den Sitten wieder eine gewisse Ordnung zu schaffen. Aber in einem Punkte stoßen sie bei der ganzen Kolonie auf erbitterten Widerstand – in der Frage der Sklaverei,