Erster Brief.
Milord Eduard an Saint-Preux.
[Der Brief scheint vor Empfang dem vorigen geschrieben.]
Tritt aus der Kindheit, Freund, wach auf! Gieb nicht dein ganzes Leben dem Schlafe deiner Vernunft hin! Die Zeit fliegt, du hast keine mehr übrig, um weise zu werden. Wenn man dreißig Jahre alt ist, so muß man an sich denken; fange also an, in dich zu gehen, und sei einmal Mann, ehe du stirbst!
Mein Lieber, Ihr Herz hat Sie lange über Ihre Einsichten getäuscht. Sie haben Philosoph sein wollen, ehe Sie die Fähigkeit dazu besaßen; Sie haben Gefühlswesen für Vernunft gehalten, und indem Sie sich damit begnügten, die Dinge nach dem Eindruck zu schätzen, den sie auf Sie machten, haben Sie stets ihren wahren Werth verkannt. Ein gerades Herz ist, gestehe ich, das erste Organ der Wahrheit; wer nichts empfunden hat, kann nichts erfahren; er rennt nur aus Irrthum in Irrthum; er erwirbt nur ein eiteles Wissen und unfruchtbare Kenntnisse, weil ihm die wahre Beziehung der Dinge zu dem Menschen, welche dessen Hauptwissenschaft ist, immer verborgen bleibt. Es heißt aber sich auf die erste Hälfte der Wissenschaft beschränken, wenn man nicht auch die Beziehungen der Dinge unter einander studirt, um diejenigen Beziehungen besser beurtheilen zu können, in welchen sie zu uns stehen. Es will nicht viel sagen, die menschlichen Leidenschaften zu kennen, wenn man nicht den Werth der Gegenstände kennt, und dieses letztere Studium läßt sich nur in der Stille der Meditation ausführen.
Die Jugend ist für den Weisen die Zeit des Erfahrens; seine Leidenschaften dienen ihm dazu als Werkzeuge; nachdem er aber seine Seele auf die äußern Gegenstände gerichtet hat, um dieselben aufzunehmen, zieht er sie in sich zurück, um dieselben zu untersuchen, zu vergleichen, zu begreifen. Dies ist die Sache, worin Sie stärker sein sollten, als irgend Jemand. Mit Allem, was nur ein empfindsames Herz an Freuden und Leiden erfahren kann, ist das Ihrige erfüllt worden. Was nur ein Mensch sehen kann, haben Ihre Augen gesehen. In einem Zeitraume von zwölf Jahren haben Sie in sich alle Empfindungen erprobt, so viele nur ihrer über ein langes Leben vertheilt sein können, und haben, noch jung, die Erfahrung eines Greises erworben. Ihre ersten Beobachtungen bezogen sich auf einfache Menschen, fast, wie sie aus den Händen der Natur hervorgehen; als ob Ihnen diese zu Vergleichungspunkten gegeben wären. In die Hauptstadt des berühmtesten Volkes der Welt verwiesen, haben Sie sich gleichsam in das andere Extrem gestürzt; das Genie bedarf der Zwischenstufen nicht. Sie kamen dann zu der einzigen Nation von Menschen, welche noch mitten unter den verschiedenen Heerden existirt, mit denen die Erde bedeckt ist, und sahen das Gesetz, wenn auch nicht herrschen, doch wenigstens noch in Geltung; Sie lernten dort, an welchen Zeichen man dieses geheiligte Organ eines Volkswillens erkennt, und wie die Herrschaft der Vernunft die wahre Grundlage der Freiheit ist. Sie haben alle Himmelsstriche durchreist, haben alle Regionen gesehen, welche die Sonne bescheint. Ein seltneres Schauspiel, würdig von dem Weisen geschaut zu werden, der Anblick einer erhabenen reinen Seele, die über ihre Leidenschaften triumphirt und sich selbst beherrscht, ist Ihnen gegenwärtig zum Genuß geboten. Der erste Gegenstand, welcher Ihre Blicke fesselte, ist derjenige, welcher sie jetzt noch fesselt, und Ihre Bewunderung für ihn ist nur desto mehr gerechtfertigt, nachdem Sie so viele andere Gegenstände in Augenschein genommen haben. Es bleibt Ihnen nichts mehr zu empfinden und zu sehen übrig, was werth wäre Sie zu beschäftigen; kein Gegenstand, der Ihre Beobachtung verdiente, als Ihr eigenes Selbst, und kein Genuß, der ihres Strebens werth wäre, als der der Weisheit. Sie haben dieses kurze Leben durchgelebt; denken Sie daran, für dasjenige zu leben, welches ewig dauern soll.
Ihre Leidenschaften, deren Sklave Sie lange gewesen sind, haben Ihnen Ihre Tugend nicht geraubt. Dies ist Ihr ganzer Ruhm, allerdings ein großer, aber seien Sie nicht so gar stolz darauf; Ihre Kraft selber ist das Werk Ihrer Schwäche. Wissen Sie, was Sie dahin gebracht hat, die Tugend stets zu lieben? Sie hat in Ihren Augen die Gestalt jener anbetungswürdigen Frau angenommen, die so ganz ihr Bild ist, und es müßte seltsam zugehen, wenn ein so theures Bild es zuließe, daß Sie den Geschmack daran verlören. Aber werden Sie die Tugend nie ihrer selbst wegen lieben und nie aus eigenen Kräften dem Guten nachjagen, wie doch Julie gethan? Wollen Sie, als ein müßiger Bewunderer ihrer Tugenden, sich unaufhörlich darauf beschränken, sie anzustaunen, ohne ihr jemals nachzuahmen? Sie sprechen mit Wärme von der Art, wie Julie ihre Pflichten als Gattin und Mutter erfüllt, aber Sie, wann werden Sie nach Juliens Beispiel Ihre Pflichten als Mann und Freund erfüllen? Ein Weib hat sich selbst überwunden, und ein Philosoph hat Mühe, sich zu bezwingen! Wollen Sie denn immer nur ein Phrasenheld sein, wie die Andern und sich darauf beschränken. gute Bücher statt guter Handlungen ans Licht zu stellen [Nein, dieses Jahrhundert der Philosophie soll nicht vorübergehen, ohne einen wahren Philosophen erzeugt zu haben. Ich kenne einen, allerdings nur einen, aber das ist immer schon viel, und zum Ueberfluß des Glückes ist es mein Vaterland, in welchem er lebt. Darf ich es wagen, ihn hierzu nennen, ihn, dessen wahrer Ruhm es ist, daß er unbekannt zu bleiben wußte? Gelehrter und bescheidener Abauzit, möge deine erhabene Sitteneinfalt meinem Herzen einen Eifer verzeihen, der ja nicht deinen Namen zu seinem Gegenstande hat. Nein, nicht dich will ich diesem Jahrhundert bekannt machen, das nicht werth ist, dich zu bewundern; zu Genfs Ruhme will ich davon reden, daß du dort gelebt hast; meine Landsleute will ich ehren, indem ich die Ehre verkünde, mit welcher sie dich ehren. Glücklich das Land, wo das Verdienst, das sich verbirgt, nur desto mehr geschätzt ist. Glücklich das Volk, wo die Jugend sich willig findet, ihren absprechenden Ton herabzustimmen und über ihr eitles Wissen zu erröthen vor der wissenden Unwissenheit des Weisen. Verehrungswürdiger, tugendhafter Greis, du bist nicht ausposaunt von den Schöngeistern; ihre geräuschvollen Akademien haben nicht von deinem Lobe wiedergehallt! statt ihnen gleich, deine Weisheit in Büchern niederzulegen, hast du sie in deinem Leben geltend gemacht; dem Vaterlande, das du deiner Wahl gewürdigt hast, das du liebst, und das dich achtet, zum Vorbilde. Du hast gelebt wie Sokrates: aber er starb durch die Hand seiner Mitbürger und du bist von den deinigen geliebt. R. — Abauzit war von Geburt Franzose und kam in frühen Jahren in Folge der Zurücknahme des Edictes von Nantes nach Genf. Er starb 1767, sieben und achtzig Jahre alt. Der Herausgeber der Rousseau'schen Werke Petitain bemerkt, daß Abauzit seine Berühmtheit in der literarischen Welt vielleicht nur dieser Note Rousseau's verdankt. Nachrichten über sein Leben und seine Werke finden sich übrigens in Sennebier Hist. Littéraire de Genève Th. III. S. 63 ff, so wie auch in dem betreffenden Artikel von Millin in der Biographie universell. D. U.]? Nehmen Sie sich in Acht, mein Lieber, es herrscht in Ihren Briefen noch ein weicher, weinerlicher Ton, der mir mißfällt, und der wohl mehr ein Ueberrest Ihrer Leidenschaft, als eine Wirkung Ihres Charakters ist. Schwachheit ist mir überall verhaßt, und an meinem Freunde mag ich sie gar nicht. Es giebt keine Tugend ohne Kraft, und der Weg zum Laster ist die Feigheit. Können Sie mit einem Herzen ohne Muth es wagen, sich auf sich selbst zu verlassen? Thor! Wenn Julie schwach wäre, würdest du morgen erliegen und nichts weiter sein, als ein schändlicher Ehebrecher. Aber da bist du nun mit ihr allein; lerne sie kennen, und erröthe über dich.
Ich hoffe bald zu euch kommen zu können. Sie wissen, welchen Zweck diese Reise hat. Nach zwölf Jahren voller Verirrung und Unruhe traue ich mir selbst nicht! um Widerstand zu leisten, war ich mir wohl genug, aber um mich zu entscheiden, bedarf ich des Freundesauges, und ich mache mir eine Freude daraus, daß Alles uns beiden gemein sei, die Erkenntlichkeit ebensowohl, als die Anhänglichkeit. Aber, daß sie sich nicht täuschen! Ehe ich Ihnen mein Vertrauen bewillige, werde ich sehen, ob Sie dessen würdig sind, und ob Sie es verdienen, wieder für mich zu thun, was ich für Sie gethan habe. Ich kenne Ihr Herz, und es befriedigt mich; aber dies ist nicht genug: Ihres Urtheils bedarf ich bei einer Entscheidung, bei welcher die Vernunft allein maßgebend sein soll, meine eigene aber mich täuschen kann. Ich fürchte die Leidenschaften nicht, wenn sie durch unverdeckte Angriffe uns warnen, auf unsrer Hut zu sein, und uns, auch bei aller Heiligkeit, die Besinnung über unsre Fehler nicht rauben, so daß man ihnen nur insoweit nachgiebt, als man ihnen nachgeben will. Ich fürchte nur die Hinterlist, mit welcher sie uns betrügen, statt uns mit offener