Holmes lächelte und klopfte Lestrade auf die Schulter.
»Ihr Renommee in Scotland Yard soll durch diesen Fall bedeutend gehoben werden, mein guter Herr. Sie brauchen nur ein paar Stellen in Ihrem Bericht zu ändern, und alle Welt wird sagen, daß es schier unmöglich ist, dem Inspektor Lestrade Sand in die Augen zu streuen.«
»Wünschen Sie denn gar nicht, daß Ihr Name erwähnt wird?« fragte Lestrade verwundert.
»Durchaus nicht. Diese Tat birgt ihren Lohn in sich selbst. Vielleicht werde ich eines Tages, wenn ich meinem eifrigen Geschichtsschreiber die Erlaubnis erteile, die Genugtuung haben, sie gedruckt zu sehen – wie, Watson? Nun wollen wir uns mal das Nest ansehen, in dem die Ratte gesteckt hat.«
Es war ein sechs Fuß langer Bretterverschlag, von der Breite des Flurs; er war genau wie die übrigen Wände tapeziert und hatte einen unsichtbaren Zugang. Durch einige Ritze unter der Dachrinne drang spärliches Licht hinein. Darin befanden sich ein paar kümmerliche Möbelstücke, eine Anzahl Bücher und Papiere und ein Vorrat von Nahrungsmitteln und Wasser.
»Das ist der Vorteil, wenn man Baumeister ist,« sagte Holmes beim Heraustreten. »Er war imstande, sein Versteck ohne fremde Beihilfe herzurichten – natürlich abgesehen von der prächtigen Wirtschafterin, die ich gleichfalls Ihrer Obhut anempfehlen möchte, Lestrade.«
»Sie soll entschieden ihrem Herrn das Geleite geben, Herr Holmes. Aber vor allen Dingen sagen Sie mir: Wie haben Sie Kenntnis von diesem Raum erlangt?«
»Ich kam zu dem Schluß, daß der Besitzer noch im Hause sein müßte. Als ich nun die Korridore abschritt und fand, daß der obere sechs Fuß kürzer war als der entsprechende untere, war es mir ganz klar, wo er steckte. Wir hätten natürlich ebensogut gleich hineingehen und ihn festnehmen können, aber es machte mir mehr Vergnügen, ihn selbst herauskommen zu lassen; außerdem wollte ich mich durch die Geheimnistuerei für Ihre Spöttelei von heute morgen etwas entschädigen, Herr Lestrade.«
»Na, die haben Sie redlich wettgemacht. Aber, wie in aller Welt kamen Sie auf den Gedanken, daß er überhaupt im Hause verborgen sei?«
»Der Daumenabdruck sagte mir’s, Lestrade. Sie meinten, er wäre das Endglied der Kette; das war er auch, nur in einem ganz anderen Sinne. Ich wußte nämlich, daß er am Tage vorher noch nicht dort gewesen war. Ich schenke allen Einzelheiten eine weitgehende Beachtung, wie Sie wohl schon bemerkt haben werden, und ich hatte den Vorraum gründlich besichtigt und keinen Flecken an der Wand gefunden. Er mußte also ohne Zweifel erst wahrend der Nacht hingekommen sein.«
»Aber wie?«
»Sehr einfach. Als die Briefschaften versiegelt wurden, hat der junge Farlane einmal seinen Daumen als Petschaft benutzt. Es ist vielleicht in der Eile und ganz zufällig geschehen, sodaß sich der junge Herr wohl selbst nicht mehr daran erinnern kann. Sehr wahrscheinlich ist es so unabsichtlich gewesen, daß auch Oldacre nicht gleich bedacht hat, wozu es ihm später nützen sollte. Als er in seinem Bau den Fall genauer überlegt hat, wird ihm erst eingefallen sein, was für ein absolut zuverlässiges Beweismittel er durch Benutzung dieses Abdrucks der Polizei liefern könnte. Auf die einfachste Art von der Welt konnte er einen Wachsabdruck davon machen, ihn mit einem Tropfen Blut von einem Stecknadelstich benetzen und über Nacht den Flecken an der Wand erzeugen. Ob er es nun selbst getan hat oder die Haushälterin, das weiß ich nicht, ist auch ziemlich gleichgültig. Dagegen gehe ich jede Wette mit Ihnen ein, daß Sie das Siegel mit dem Daumen finden, wenn Sie die Briefschaften durchsehen, die er in sein Versteck mitgenommen hatte.«
»Großartig!« rief Lestrade. »Großartig! Wie Sie es auseinandersetzen, ist alles klar wie Kristall. Was aber ist der Grund dieses ganzen Betrugs?«
Es amüsierte mich, wie das hochmütige Verhalten des Inspektors von heute früh sich so sehr geändert hatte, und wie er sich nun gleich einem Kinde gebärdete, das Fragen an seinen Lehrer stellt.
»Ich halte es für nicht sehr schwer, diese Handlungsweise zu erklären. Der Herr, der jetzt unten wartet, ist eine sehr tiefgründige, bösartige und rachsüchtige Natur. Sie wissen doch, daß er einst von Farlanes Mutter den Laufpaß bekommen hat? Sie wissen’s nicht! Ich sagte Ihnen gleich, daß man zuerst nach Blackheath und dann nach Norwood gehen müßte. Also, diese Kränkung, wie er es auffaßte, hat ihm sein ganzes Leben lang keine Ruhe gelassen, er hat stets auf Rache gesonnen, ohne je eine günstige Gelegenheit zu finden. In den letzten ein oder zwei Jahren hat er Geldverluste gehabt – ich denke mir durch heimliche Spekulationen – und es geht rückwärts mit ihm. Er sucht seine Gläubiger zu beschwindeln und stellt hohe Wechsel aus, zahlbar an einen gewissen Cornelius, was meiner Meinung nach nur ein falscher Name seiner eigenen Person ist. Wenn ich die Spur dieser Wechsel auch noch nicht verfolgt habe, so unterliegt es für mich doch schon jetzt keinem Zweifel, daß sie nach einer Provinzialbank führt, wo Oldacre von Zeit zu Zeit unter diesem Namen aufgetaucht ist. Er hat die Absicht gehabt, dann überhaupt seinen Namen zu wechseln, das Geld einzuziehen und irgendwo ein neues Leben zu beginnen.«
»Das klingt nicht unwahrscheinlich.«
»Durch sein Verschwinden glaubte er, seine Spur vollkommen zu verwischen und gleichzeitig an seiner ehemaligen Braut die schwerste Rache nehmen zu können, indem er auf ihr einziges Kind den Verdacht lenkte, ihn ermordet zu haben. Es war ein Meisterstück der Schurkerei, und er hatte es meisterhaft ausgeführt. Die Geschichte mit dem Testament, das ein treffliches Motiv zur Tat abgeben mußte, der heimliche nächtliche Besuch ohne Wissen der eigenen Eltern, die Zurückbehaltung des Stockes, das Blut, die tierischen Ueberreste und die Knöpfe in der Asche, alles war erstaunlich geschickt gemacht. Es war ein Netzwerk, aus dem zu entschlüpfen, ich für das unschuldige Opfer noch vor ein paar Stunden keine Möglichkeit sah. Aber es fehlte ihm die höchste Gabe des Künstlers, die Mäßigung, die Beschränkung. Er wollte was schon vollkommen war, noch vollkommener machen, – den Strick am Halse seines Opfers noch fester ziehen – und dadurch verdarb er das Ganze. Wir wollen nun zu ihm hinuntergehen, Lestrade. Ich möchte noch ein paar Fragen an ihn richten.«
Die elende Kreatur saß im eigenen Empfangszimmer, mit einem Schutzmann an jeder Seite.
»Es war nur ‘n Scherz, mein guter Herr, weiter nichts als ‘n Scherz,« winselte er unaufhörlich. »Ich versichere Ihnen, mein Herr, daß ich mich nur verborgen hatte, um die Wirkung meines Verschwindens zu beobachten. Sie werden doch nicht so unrecht von mir denken und glauben, daß ich dem jungen Herrn Farlane auch nur das geringste Leid hätte antun lassen.«
»Darüber hat das Gericht zu entscheiden,« antwortete Lestrade. »Vorläufig werden Sie sich wegen Verschwörung, wenn nicht wegen versuchten Mordes zu verantworten haben.«
»Und außerdem werden Sie die schmerzliche Erfahrung machen müssen, daß Ihre Gläubiger das Bankguthaben des Herrn Cornelius mit Beschlag belegen,« sagte Holmes.
Das schmächtige Männchen sprang vom Stuhl auf und warf meinem Freund wütende Blicke zu.
»Ihnen habe ich das meiste zu danken,« erwiderte er haßerfüllt; »vielleicht kann ich Ihnen meine Schuld eines Tages heimzahlen.«
Holmes lächelte nachsichtig.
»Die nächsten paar Jahre werden Sie, glaube ich, kaum die nötige Zeit dazu finden,« erwiderte er ruhig. »Aber vielleicht beantworten Sie mir jetzt noch eine Frage: was haben Sie außer Ihren alten Hosen noch in den Holzhaufen geworfen? Einen toten Hund, ein paar Kaninchen oder was sonst? Sie wollen mir’s nicht sagen? Ei, ei, sind Sie unhöflich! Nun, ein paar Kaninchen genügten, um das Blut zu liefern und die verkohlten Knochenreste. – Falls du jemals diese Geschichte niederschreiben solltest, Watson, so denke an die Kaninchen!«
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