Ricarda Huch
Natur und Geist
Als die Wurzeln des Lebens und der Kunst
e-artnow, 2021
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EAN: 4064066388850
Inhaltsverzeichnis
III. Kapitel. Die Erscheinung des Menschen
VI. Kapitel. Der selbstbewußte, persönliche Mensch
VIII. Kapitel. Überblick über die Weltgeschichte
IX. Kapitel. Die Entwicklung des menschlichen Geistes
I. Kapitel.
Die Welt
Der Kosmos ist eine Dreieinheit aus Geist, Natur und Seele; diese drei Wesensteile bestehen nur miteinander verbunden. Die Natur ist körperlich und erscheint in der Sphäre des Raumes, der Geist ist das Innere der Natur und ist zeit- und raumlos, die Seele ist das Verbindende und bewegt sich in der Sphäre der Zeit. Der gebräuchliche Ausdruck für Zeit- und Raumlosigkeit ist Ewigkeit; aber Innerlichkeit ist bezeichnender. Erinnern ist erewigen, und verewigen ist verinnerlichen. Da der Geist nichts anderes ist als die in die Innerlichkeit übertragene Natur oder die Natur nichts anderes als der in die Körperlichkeit übertragene Geist, so sind Geist und Natur dasselbe, und es besteht nur der Unterschied zwischen ihnen, daß die Natur im Raume erscheint und dadurch die Ganzheit des Geistes zerteilt. Man kann auch sagen, der einzige Unterschied zwischen Geist und Natur bestehe darin, daß die Natur sinnlich wahrnehmbar, der Geist innerlich ergreifbar ist.
Da Geist und Natur einander wesentlich gleich und nur durch die Erscheinungsweise verschieden sind, so ist nicht zu begreifen, wie die Einheit aufgehoben und aus Ruhe Bewegung werden konnte, und zwar können wir es deshalb nicht begreifen, weil das Wesen des Geistes, der Ewigkeit oder Innerlichkeit, uns unfaßbar ist. Wir können nicht begreifen, daß etwas ohne Anfang und Ende sein kann, daß Natur Geist, daß Äußeres Inneres werden kann. Vorausgesetzt muß also werden, wenn es auch nicht begriffen werden kann, daß das Äußere innerlich werden, daß das Unbewußte wissend werden wollte; oder: vorausgesetzt muß werden, daß die Weltmasse wie das Urtier die Eigenschaft der Reizbarkeit (Irritabilität) besaßen, die Eigenschaft, auf Reiz durch Bewegung zu antworten, und daß dieser Reiz in dem Triebe der Natur Geist zu werden bestand. Mit dem unfehlbar richtigen Blick des Kindmenschen lehrten deshalb die Alten, daß der Streit der Vater aller Dinge, und daß die Liebe die Urgottheit, das erste Lebenszeichen gewissermaßen der Welt, gewesen sei. Bewegung ist nicht möglich ohne Abweichung und infolgedessen Gegensätzlichkeit, Spannung, Entzweiung, womit zugleich der Trieb, die Entzweiung auszugleichen, gegeben ist. Indem also Geist und Natur sich entzweiten, wurde die Natur von Liebe zum Geist ergriffen (das Unbewußte wollte wissend werden), und diese Liebe ist der Ursprung des Lebens. Denn wie jedem Ausgleich (jeder Bewegung) eine Entzweiung vorausgegangen sein muß, so muß jedem Ausgleich, der nie absolut ausgleicht, eine neue Entzweiung folgen, und die ewige Folge von Entzweiung und Ausgleich ist das, was wir Leben oder Entwicklung nennen. Leben ist eine Folge von Entzweiung und Ausgleich; den letzten Ausgleich nennen wir Tod.
Das Äußere, welches sich von der Natur losriß, weil es die Innerlichkeit liebte und innerlich bzw. wissend werden wollte, ist die Natur, die wir im Gegensatz zur unbewußt gebliebenen Natur Geist nennen; er verhält sich negativ zur positiven Natur.
In der anorganischen Natur erscheint der Geist als Element, in der organischen zuerst als Individuum, dann als Person.
Die Spaltung des Universums in negativen Geist und positive Natur erscheint in der organischen Natur als Mann und Weib bzw. als männliches und weibliches Prinzip.
Der Mann ist wesentlich Element, Individuum, Person, das Bewegte, das Vereinzelte, das Abweichende; er hat sich von der Natur losgerissen und steht ihr negativ gegenüber; das Weib ist allgemein und typisch, eins mit der Natur und positiv wie sie. Der Ausgleich der zwischen Mann und Weib bestehenden Spannung ist das von ihnen erzeugte Kind. Das Kind ist die Seele von Mann und Weib, sie zusammen bilden den ganzen Menschen, einen Kosmos.
Wie der Mensch in positiver und negativer Natur wurzelt, so wurzelt das Kind in Mutter und Vater; sie beide bilden seine Wesenshälften, welche sich in seinem Innern zu einem neuen Individuum bzw. einer neuen Person vereinigen. Der Ausgleich der Spannung der beiden Wesenshälften, der positiven und negativen, im Innern des Menschen ist das Kunstwerk oder die Tat. Der sich entwickelnde Mensch muß handeln oder gestalten.
Die Menschheit, der Mensch und das Kunstwerk (bzw. die Tat) sind demnach Ausgleiche von Spannungen zwischen positiver, unbewußter Natur und negativer, bewußter Natur oder zwischen Natur und Geist und also Abbilder des dreieinigen Kosmos. Auch diese Dreieinheiten sind unauflösbar und können getrennt nicht bestehen. Ihre drei Wesensteile sind unbewußte Natur, bewußte Natur oder Seele und selbstbewußte Natur oder Person oder Geist.
Die Entzweiung ist Wissendwerdenwollen, das ist Lieben; der Ablauf der Entwicklung ist daher mit zunehmendem Bewußtsein und zunehmender Liebe verbunden; Bewußtwerden und Liebe sind nebeneinander herlaufende Erscheinungen. Die Entwicklung geht vom Unbewußtsein bis zum vollständigen Selbstbewußtsein, von der sinnlichen Liebe oder Liebe des Gegensatzes bis zur vollkommenen Selbstliebe oder geistigen Liebe. Ist die Natur ganz Geist geworden, so tritt sie die rückläufige Bewegung an und entwickelt sich durch den Tod wieder zur Natur. Entsprechend den drei Sphären des Raumes, der Zeit und der Innerlichkeit wiederholt sich die Entwicklung der Geist-Natur dreifach: einmal räumlich-zeitlich in der Natur- und Menschengeschichte, zweitens zeitlich-räumlich in der Geschichte jedes Individuums, drittens geistig im Innern jedes Individuums, und zwar ist der dritte Ablauf analog dem zweiten, der sein Erscheinen hervorruft, und der zweite analog dem ersten, der sein Erscheinen hervorruft. Das heißt: im Innern jedes einzelnen wiederholt sich das Verhältnis der Eltern zueinander, und in der äußeren Geschichte jedes Individuums wiederholt sich das Verhältnis von Geist und Natur, wie es zur Zeit seines Entstehens in der Geschichte bestimmt ist. Diese Wiederholung des elterlichen bzw. geschichtlichen Verhältnisses geht, bis die Bildung der Person im Innern und Äußern des Individuums vollendet ist, von welchem Zeitpunkt an die Person ihre Entwicklung selbst bestimmen kann. Das geistige Leben des Individuums hängt also ab von der Beschaffenheit des Geistes seiner Zeit, d. h. es entspricht der Stufe, die die geistige Entwicklung des Menschen zur Zeit seiner Geburt erreicht hat, und sein natürliches Leben hängt ab von der Beschaffenheit der natürlichen Kraft seiner Zeitgenossen (insbesondere seines Volkes). Die Grundlage seines Handelns und Schaffens muß demnach der geistig-natürlichen Entwicklungsstufe seiner Zeit entsprechen, je nach seiner Persönlichkeit jedoch kann es aus dieser Grundlage Neues und Eigenes hervorbringen. Ebenso hängt das geistig-natürliche Einzelwesen von der geistig-natürlichen Beschaffenheit seiner Eltern ab, die sie mit der männlichen und weiblichen Keimzelle auf dasselbe übertragen; sind